Erlaube, Fremdling, dass ich dich berühre II (2004)
für 2 Spieler, 2 Instrumentalensembles, Cd-Zuspiele
(UA: 5. 1. 2005, Kesselhaus der Kulturbrauerei, Berlin) Dauer: 55 min.

für Franco Evangelisti

linkes Ensemble: Violine, Cello, präp. Klavier/Sampler, rechtes Ensemble: Streichquartett, E-Gitarre

gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Ausführende der UA: Anika Mauer-Spieler 1, Christian Kesten – Spieler 2, Gordon MacKay-Violine, Anton Lukoszevieze – Cello,
Christoph Grund – präp. Klavier/Samplekeyboard, Ensemble 01: Andreas Winkler, Ruth Petrovitsch: Violinen, Ulla Bruder: Viola,
Enrico Schüler: Cello, Daniel Göritz- E-Gitarre
Regie: Peter Staatsmann, Bühne/Kostüme: Norma Mack; Licht: Tina Wolf


Hörbeispiel aus dem 2. Satz:


Einführung
‘Erlaube, Fremdling, dass ich dich berühre II’ verbindet und synthetisiert Instrumentalklänge, Samples und szenische Momente zu einer intensiven Komposition über die spannungsvollen und konfliktträchtigen Prozesse einer globalisierten vernetzten Kommunikation, die unsere Kategorie von Raum und Zeit fundamental und irreversibel verändert. Die Teilnahme an diesen Prozessen oder das Ausgeschlossensein von diesen elementaren Veränderungen enscheidet über die Zukunft unserer Gesellschaften und unserer Welt. Iris ter Schiphorst unternimmt in ihrer musikalisch-theatralischen Suite eine Auseinandersetzung mit unserer technologisch revolutionierten Gegenwart und erinnert sich dabei der 1963 entstandenen Arbeit ‘Die Schachtel’ von Franco Evangelisti und Franco Nonnis.

Auf der Bühne begegnet man zwei eigenständigen Ensembles, die miteinander kommunizieren: ein Trio bestehend aus Klavier/Sampler, Violine und Cello auf der linken und ein traditionelles Streichquartett plus E-Gitarre auf der rechten Seite. Dieser Kommunikationsprozess, der in MUSIK sich vollzieht, steht im Mittelpunkt der Aufführung. Die zwei Instrumentalensembles und zwei Spieler/Sänger stecken den gesellschaftlichen Rahmen ab: durch sie nehmen wir ‘Individuen’ bzw. ‘Subjekte’ in dieser Klanglandschaft wahr. Das ‘vernetzte Ich’ und seine Beziehung zu jenem unbekannten ‘Fremdling’, der für die vernetzte Gesellschaft zu einer spiegelnden und trügerischen Projektionsfläche wird, die ihr womöglich nichts anderes zeigt, als ihre eigenen Wünsche, Obsessionen und Ängste.
(Peter Staatsmann)


Einige Anmerkungen zur Verbindung von „Erlaube Fremdling, dass ich dich berühre“ und „Die Schachtel“ von Franco Evangelisti

Die Frage, die mich von Anfang an bei meinem Projekt geleitet hat, war: ist es möglich, ein gesellschaftspolitisches Thema wie die ‚digitale Kluft‘ in, mit oder durch MUSIK darzustellen? Und welche historischen Vorbilder gibt es für ein solches Vorhaben? Immer wieder kam mir „Die Schachtel“ von Franco Evangelisti und Franco Nonnis in den Sinn, die ich immer schon außergewöhnlich fand, sowohl formal und künstlerisch-ästhetisch, wie auch in ihrem politischen Anspruch. Zudem schien sie mir inhaltlich meinem Projekt in gewisser Weise ‚ähnlich‘ zu sein, wird doch auch in der SCHACHTEL eine ‚neue‘ mediale Realität, ein ‚neuer‘ medialer gesellschaftlicher Zustand thematisiert, nämlich das seit den 1960er Jahren mehr und mehr den Alltag überflutende Fernsehen; zur Entstehungszeit der SCHACHTEL in seinen politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ähnlich bestimmend, und revolutionär, wie es das Worldwideweb heutzutage ist.

Insofern wurde „Die Schachtel“ während des Entstehungsprozesses des ‚Fremdlings‘ für mich nicht nur zu einer Art ‚Vor-Bild‘, sondern auch ganz konkret zu einer ‚Vorlage‘, aus der ich einige Grundkonstellationen und Merkmale übernahm, z.B. die Besetzung und die Art der Sprachbehandlung. Es gibt auch in meinem Werk Spieler, Projektionen und Zuspielbänder. Auch bei mir kommen die wenigen Texte vom Band, und sind - wie in der SCHACHTEL - weder poetisch, noch eigenständig literarisch, sondern einfach ‚Slogans‘ zum Thema Worldwideweb, wie sie überall in den Medien auftauchen.
Zudem habe ich mich in gewisser Weise an die grundsätzliche Aufteilung der SCHACHTEL gehalten. Genauer: an die jeder ‚Struktur‘ der SCHACHTEL zu Grunde liegende Überschrift. Auf diese Weise komme auch ich zu 6 Teilen, die sich jeweils inhaltlich und strukturell auf die jeweilige Überschrift beziehen und in meiner Partitur auch ausgewiesen sind. Den Teilen A, B1, B2, B3, B4 und C, wie sie in der SCHACHTEL vorkommen, entsprechen die Satzbezeichnungen in „Erlaube Fremdling, dass ich dich berühre II“:

1. Satz A „Diskurs über die Persönlichkeit“ / Konstellierung des Disparaten

2. Satz B1 „Befreiende Reaktionen“

3. Satz B2 „Die Neurose als Fluchtmöglichkeit“

4. Satz B3 „Die lyrische Ausflucht“ / Das Gefühl als Fluchtmöglichkeit

5. Satz B4 „Die Reaktion auf die Massenpsychologie;
Dissoziation der Sprache und der Gesten; Die Flucht in hektisches Treiben.“

6. Satz C Finale/ „Verherrlichung des Systems des geringsten Widerstandes.“

Außerdem gibt es natürlich wie in der SCHACHTEL Instrumentalisten, jedoch sind es in meinem Fall zwei Ensembles ohne Dirigent. Ein bedeutsamer Unterschied. Denn ich wollte - mehr als dies meiner Meinung nach in der SCHACHTEL der Fall ist - auch IN DER MUSIK selbst, in der kompositorischen Behandlung dieser 2 Ensembles, ‚mein Thema‘ verarbeiten. Ich wollte davon auch in der Musik ‚erzählen‘. Durch die Präsenz dieser beiden eigenständigen Ensembles wird dies meiner Meinung nach möglich. Der Kommunikationsprozess zwischen den beiden Ensembles steht bei mir im Mittelpunkt der Aufführung. Im Nachvollzug und Miterleben seiner Verläufe und Vorgänge versuche ich hörbar zu machen, was in unserer Gegenwart geschieht und auf dem Spiel steht. Das Spektrum reicht von ‚Vereinzelung‘ über ‚Miteinander‘, ‚Nebeneinander‘, ‚Gegeneinander‘, ‚gelingender Kommunikation‘ , oder auch ‚Scheitern von Kommunikation‘.
Den beiden Spielern kommt dabei die Aufgabe zu, den gesellschaftlichen Rahmen abzustecken: durch ihre Anwesenheit ist die Möglichkeit gegeben, zwei verschiedene ‚Individuen‘ bzw. ‚Subjekte‘ in diese Klanglandschaft einzuführen und durch winzige ‚Szenen‘ den unendlich weiten Assoziationshorizont der Musik im Sinne des Themas zu begrenzen.

Insofern ist ‚Erlaube Fremdling, dass ich dich berühre‘ musikalisch-ästhetisch etwas ganz anderes als „Die Schachtel“, die ja zum Teil mit offenen Formen, Improvisationen und einer vom Regisseur und Dirigenten selbst zu bestimmenden Zeitachse arbeitet. Doch trotz dieser Unterschiede ist meine Arbeit auf besondere Weise mit der SCHACHTEL verbunden. Ja, vielleicht kann ich sogar sagen, dass es ohne DIE SCHACHTEL den FREMDLING nicht gegeben hätte. Und diese Aussage ist nicht zuletzt als eine Verbeugung zu verstehen vor einem großartigen Stück der Musikgeschichte.

Iris ter Schiphorst (8.11.2005)


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