PRAE-SENZ (Ballet blanc II) (1997) (mit Helmut Oehring) für Violine, Cello, präp. Klavier/Sample- Keyboard, 1997
(UA Berlin, 1997) Dauer: 35 min.
Auftragswerk vom Ensemble ictus/Berliner Festwochen
UA: 17/09/1997, Berliner Festwochen, ictus-Ensemble
Composers Note:
Es beginnt mit der Wiederholung
Dem Vatermord, der kein Ende hat
PRÉSENCE und ihr Double.
Ein ‘théatre de la cruauté’.
Das Nicht-Darstellbare.
Ballet blanc’.
Presse:
FAZ 7. 10. 1997
Aus Berliner Konzertsälen: Die Ur- und Wiederaufführungen der Festwochen
Schnippeln ist derzeit das Ding
„Prae-Senz“. Ein Gemeinschaftswerk von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring. Er kommt aus Ostberlin, sie stammt aus Bremen, mithin ist diese Uraufführung die zweite deutsch-deutsche Kollektivkompostition der Festwochen. Freilich eine unpathetische. Auch handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Pasticcio, zu dem jeder einen Satz beiträgt. „Prae-Senz“ ist live lektronisch verfremdete Kammermusik, ein in nicht leicht identifizierbare Geräuschschichten zerrupftes Trio für Violine, Cello, präpariertes Klavier und Sample-Keyboard. Schon Titel und Untertitel („Ballet blanc II“) zeigen an: Das Stück ist gedacht als Hommage an Bernd Alois Zimmermanns Klaviertrio „Présence, ballet blanc en cinq scenes“.
Beide Werke wurden vom Brüsseler Ictus-Ensemble nacheinander gespielt: erst „Prae-Senz“, dann „Présence“, Vertrautes mit Fremdartigem verzahnend, eine höchst irritierende, die Ohren verrückende Operation. Wie der große Übervater und Außenseiter in diesem Schlüsselstück der Moderne seine Idee der Kugelgestalt der Zeit realisiert, in einer Collage aus Vergangenem und Gegenwärtigem – „dünne Eisschicht, auf der der Fuß eben nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht“ (Zimmermann). So klauen nun seine Epigonen verehrungsvoll sein Verfahren und machen etwas Neues, Eignes daraus, in einer Art kreativem Vatermord. Sie schneiden Zimmermanns Stück in Stücke, ebenso die eignen. Sie fügen mit Lust zusammen, was nicht zusammengehört. Bei den Dresdner Tagen der zeitgenössischen Musik steht schon die nächste Uraufführung auf dem Programm: „Silence moves“, eine Art Kammeroper „für sechs Musikerinnen in Bewegung“.
Dieses seltsame Kollektivkomponieren scheint ganz auf der Höhe der Zeit. Wie es funktioniert? An einem großen Tisch. Mit einer Schere. „Schnippeln ist derzeit das Ding,“ sagen die Komponisten. Nicht Neues nach alten Mustern konstruierend, sondern zunächst das Alte auseinanderlegend, zerschneidend: Denn vor der Konstruktion kommt zunächst die Dekonstruktion und Analyse. (Eleonore Büning)
Artikel von Bastien Gallet (Paris) zur Französischen Erstaufführung von PRAE-SENZ
Auf dem Programm …: eine Neubearbeitung des Ballet blanc (betitelt Présence) von Bernd Alois Zimmermann, oder eher sein Doppelgänger (”PRÉSENCE und ihr Double” kündigt man schon am Anfang an), ein Ballet blanc II (betitelt Prae-senz) welches die Handlung (fünf Szenen eines imaginären Balletts) und die Personen (Don Quichote, Molly Bloom und Ubu Roi, verkörpert jeweils durch Violine, Cello und Klavier) seiner Vorlage wiederaufnimmt, in welchem man schon eingefügt Passagen aus Don Quichotte von Strauss und aus der Siebten Sonate von Prokofjew hörte. Das grausame Double (”Ein théâtre de la cruauté” [Theater der Grausamkeit] hat es eine Stimme genannt) des Paares Oehring / Schiphorst bringt das zum Bersten - zerreißt das, was das Original nur unter großen Mühen zusammenzuhalten vermochte, diese “zerbrechliche Eisschicht, auf welcher der Fuß nur bleiben kann, bis sie zerbricht” (so Zimmermann). Und zwar derart: 1. Szene, Einleitung und keine Handlung (Don Quichotte), das Sample der ersten Takte aus dem zweiten Satz der Siebten Sonate oder eine imperfekte Kadenz (rechte Hand) über einem schwankenden Baß eines Tanzes im Zweivierteltakt (linke Hand), rhythmische Zelle, deren Ungleichgewicht (Beschleunigung, welche die musikalische Person, die sich hier in großen Zügen abzeichnet - Don Qui-chote? - scheinbar nur schwer ertragen kann und die ihn in etwas mitreißt, das sich als Sturz - von einem Pferd? - interpretieren ließe) man über die gesamte Szene hinweg wiederfindet, welche gefühllos eine elektronische Eruption unterbricht, aus der sich bald eine Frauenstimme herausschält, die das Tagesprogramm ankündigt: verzwickt. Was sich anschließt, ist eine Aufeinanderfolge von Momentaufnahmen (nicht zufällig ist Polaroids der Titel eines ihrer Stücke, mit dem Untertitel “Mélodrame”), von Wiederholungen (Zellen, die man zwei- oder dreimal wiederholen muss), von variierenden Landschaften (wie diese Schleife von chopinesker Lieblichkeit unter dem hysterischen Kreischen der Saiten), ohne dass sich jemals die hinkende Schaukelbewegung von Prokofjews Sonate verliert.
Ihre Musik gebraucht Musik (Musiken) wie als Anlaß für Geschichten und versucht zu zeigen, was sie hören läßt, indem sie sie (die Musiken) wie undurchsichtige Zeichen “Blut, Tränen, Gewalt, Haß, Tod, Liebe”) einer zeitgenössischen Ton-Bild-Tragödie gebraucht. (Bastien Gallet)
Ich verabscheue jedes Zeichen.
Ich werfe es aus, ich scheide es aus (ich gebe ihm seine Kothaftigkeit zurück).
Ich erschaffe nur Maschinen augenblicklich von Nutzen.
Augenblicklicherweise nützlich oder nützlicherweise augenblicklich.
Ich werde niemals mehr kacken.
Ich werde mir einen neuen Körper machen: der nichts auswirft.
(Antonin Artaud)