Komposition, Samples+live-Elektronik: Iris ter Schiphorst
Text: Helga Utz (nach Dichtungen aus dem arabischen Raum, vornehmlich aus der vor- und frühislamischen Zeit)
Programmierung und Klangregie: Wolfgang Musil
Orchesterbesetzung
2.2.1.bcl.1.dbn-2.2.2.0-timp.perc(3)-pft-sampler-strings(10.8.6.6.4); 4additional thundersheets with transducer; amplification
Zum Stück:
Das Stück operiert als Folie für unsere Wahrnehmung; in dieser ‚Versuchsanordnung’ verkörpert die Solistin Salome Kammer eine Frau in zwei Rollen: eine Araberin und eine Europäerin. Im Verlauf des Stückes wechselt sie zwischen diesen beiden Rollen hin und her. Durch zum Teil buchstäbliche Wiederholungen musikalischen Materials – jedoch in unterschiedlicher Rolle ‚verkörpert’ - gerät unsere Wahrnehmung in den Focus. Werden die Rezipienten die gleiche musikalische Aussage anders interpretieren, je nachdem, ob sie eine ihr vertraute oder fremde Gestalt wahrnehmen? Und wenn ja, wie? Wodurch entstehen die Bilder in unserem Kopf? Sehen wir nicht immer schon wie durch einen Schleier und machen uns unser ganz eigenes Bild?
Der Text von Helga Utz beruht auf Dichtungen aus dem arabischen Raum, vornehmlich aus der vor- und frühislamischen Zeit. Bei den alten Beduinenstämmen hatten die Dichter und vor allem auch Dichterinnen einen hohen Stellenwert, und es sind viele Werke über die Jahrhunderte erhalten, die auf hohem Niveau reflektieren. Berühmt waren Dichterinnen wie Al Khansa aus dem 6., Rabia aus Basra und Rabia-i Quzdari aus dem 10. Jahrhundert oder Shada Bint Ahmed ad-Dinoria, gestorben 1178. Immer geht es um Beschreibungen einer Welt aus den Fugen, der man einzig sinnvoll mit kompromisslosem Humanismus begegnen kann.
Videomitschnitt der UA:
http://mediathek.mdw.ac.at/claudio-abbado-konzerthaus/?v=$1$TM.3nG3z$5lYwnBiWTVdE0WiW9JpGI.
Presse zur UA am 4.11. von DAS IMAGINÄRE NACH LACAN für Darstellerin, großes Orchester, Samples und live-Elektronik im Konzerthaus beim Festival Wien modern
Wiener Zeitung, Lena Dražić 6.11. 2017
...Höhepunkt des Abends bildete das Werk "Das Imaginäre nach Lacan" der in Wien wirkenden Komponistin Iris ter Schiphorst. Die Sängerin Salome Kammer trug darin Fragmente aus klassischen arabischen Dichtungen vor, wobei sie sich teils in arabischer, teils in europäischer Kleidung präsentierte - ein Spiel mit den Bildern, die im Kopf bei der Wahrnehmung des Fremden entstehen. Nicht nur die szenische Umsetzung, auch die Musik selbst vermochte dramatische Spannung aufzubauen - das elektronisch erweiterte Orchester erzeugte ein Klangbild von ungewöhnlicher Drastik.
Online Merker 4.11. 2017 – von Karl Masek
...Höhepunkt des Abends die Uraufführung von „Das Imaginäre von Lacan“ der deutschen Komponistin (und Professorin am mdw) Iris ter Schiphorst für Darstellerin/Singstimme, Orchester und Live-Elektronik (2017). Text: Helga Utz nach altarabischen Dichtungen. Jaques Lacan (1901-1981) erweckte in der Stadt des Sigmund Freud als eine Art Freud-Nachfolger unter den Psychoanalytikern Interesse der aus Berlin stammenden Komponistin. Das „Ich“ (die Selbsterkenntnis) des Menschen entwickle sich, vereinfacht gesagt, im Spiegelstudium. Daher sei der ursprüngliche Arbeitstitel auch „Spiegel“ gewesen. Davon kam man aber wieder ab (die Erfahrenen wissen: Da gibt’s schon einen Werktitel von Friedrich Cerha!). Und das „Imaginäre“ (nur in der Vorstellung Stattfindende) soll sich in den poetischen Texten (überraschend hoher Anteil an Frauen!) widerspiegeln.
Iris ter Schiphorst verleiht diesen Texten nicht nur musikalische Inspiration, sondern darüber hinaus hohe emotionale Dringlichkeit. Und mit Salome Kammer hat Schiphorst eine idealtypische Interpretin dieser 16 Sequenzen. Diese sind im Wien Modern-Almanach mit „Die Wölfe frei, die Hirten sind in Ketten!“ übertitelt. Die gleichbleibenden Texte werden verschiedensprachig und in wechselnden Kostümen (zwischen westlich-europäisch und muslimisch samt Schleiern changierend) mit packender Intensität gestaltet. Kammer ist ein künstlerisches Multitalent (Sängerin mit weichem Timbre, stratosphärisch anmutenden Hochtönen; Schauspielerin mit vergleichsweise dunkel grundierter Stimme mit großer Ausdruckskraft gerade auch im dramatisch zugespitzten Sprechgesang, aber auch eine Cellistin). Die Kostümwechsel auf „offener Bühne“ gestaltet sie mit Geschmack und ohne jede Aufgesetztheit. Das „künstlerische Experiment zum aktuellen Verschleierungsverbot“ wurde voll goutiert – ganz ohne künstliche Erregung, wie sie im Alltag mitunter anzutreffen ist. ... Verdiente Ovationen für alle Beteiligten!
Der Standard: „Claudio - Abbado-Konzert": Klänge – verschleiert und unverschleiert Daniel Ender 5. November 2017
...Die Internationalität der Zuhörer hat wohl ihren Grund im letzten, für ein Orchesterkonzert mit neuer Musik eher unorthodoxen Programmpunkt, der ein weites Assoziationsfeld eröffnet: Ganz dem Festivalmotto "Bilder im Kopf" verpflichtet war dabei die Uraufführung von Das Imaginäre nach Lacan von Iris ter Schiphorst, die als Experiment mit der visuellen und auditiven Wahrnehmung von Lacans These ausging, dass sich Individuen erst durch ihre Begegnungen mit dem "Anderen", mit dem "Fremden" definieren. Frühislamische Texte Dafür hat Librettistin Helga Utz poetische frühislamische Texte von Dichterinnen kompiliert, die die eindringliche und dabei virtuose Sopranistin Salome Kammer abwechselnd "arabisch" verschleiert und dann "europäisch" gekleidet sang. Von orientalisch angehauchten Kantilenen bis zu extrovertierten Mustern in der Nähe von amerikanischer Popularmusik reichte die stilistische Bandbreite des Stücks. So einfach diese Grundidee, so plastisch und schlicht das musikalische Material, so wirkungsvoll war allerdings das Setting – und die dabei entstandenen Bilder im Kopf werden wohl bei vielen noch lange nachklingen.
Deutschlandfunk Reinhard Lager
...Ein aktuelles politisches Statement würde man unter dem Motto "Bilder im Kopf" eher nicht erwarten. Und erst recht nicht von altarabischen Texten, die Salome Kammer in einer deutschen Übersetzung spricht. Und doch gelingt es der niederländischen Komponistin Iris ter Schiphorst, Zeitgemäßes aus den alten Schriften herauszulesen. Zur Hälfte ihres neuen Orchesterstücks "Das Imaginäre nach Lacan" schlüpft dessen Solistin in den Tschador einer arabischen Frau, um denselben Text nochmals zu rezitieren: Verändern die Bilder, die wir uns von der Interpretin machen, womöglich die Wahrnehmung der gesellschaftskritischen Inhalte, die sie uns vermittelt?