DISLOKATIONEN für Orchester, Solo-Klavier und Sampler (2008-2009)
UA: 3. Juli 2009, München-Herkulessaal,
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks; Dir. Martyn Brabbins, Solist: Christoph Grund (dem das Stück gewidmet ist)
Kompositionsauftrag der musica viva
Dauer: 22 min
In der Endauswahl des Rostrum of composers 2012, in mehr als 32 Ländern gesendet
Mitschnitt der UA
Aus: …auf der Suche nach dem Erhabenen….
„…Denn in den Epochen historischer Dislokation, wenn wir des Ortes vertrieben werden, entwickelt sich diese strukturalistische Leidenschaft, die in einem eine Art experimentellen Überschwangs und ein überhand nehmender Schematismus ist, um ihrer selbst willen.“(Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 14)
‚Dislokation’ bezeichnet im Allgemeinen eine Lageveränderung (s. im Lateinischen ‚dislocare’ = verschieben). Des Weiteren wird der Begriff in verschiedenen Disziplinen verwendet: In der Geologie bezeichnet er eine durch Faltung, Überschiebung oder Verwerfung gestörte Lagerung eines Gesteins…,im Militärwesen: die Einteilung von Truppen, bzw. die Verteilung von Einheiten …,in der Medizin: eine pathologische Verlagerung von Organen, oder eine Verlagerung, Verschiebung oder Verdrehung von Knochen oder Knochenteilen gegeneinander…,in der Sprachwissenschaft eine markierte Satzstellung…
Seated Ovation… This would all seem absolutely nuts if it weren’t for the orchestral concert which followed, perhaps the wildest a full Mahlerian-size ensemble can get. Two works composers Simon Steen-Andersen and Iris Ter Schiphorst, made Lachenmann’s massive, muted orchestral rumination Staub seem rather tame. Christoph Grund, the keyboardist in Schiphorst’s Dislokationen, matched Le’s intensity, playing amplified piano with one hand and keyboard sampler with the other as gigantic rap grooves blasted in the background. Schiphorst sets up huge backbeats in the orchestra and electronics, with a pulverizing piano part and occasional sample of a rapper screaming something about the motherfucking remix. The Rundfunk Sinfonie Orchester Berlin took it all in stride, with conductor Peter Rundel masterfully keeping everything together.
BESETZUNG: 4 Flöten (1+2 auch Piccolo)3 Oboen (1 auch Englisch –Horn)2 Klar. in B, 2 Baßklar. 2 Fagotte1 Kontrafagott, 6 Hörner4 Trompeten in B4 Posaunen1 Tuba3 Schlagzeuge1 Pauke1 Harfe, 1. Klavier+Keyboard = Soloklavier2. Klavier = Orchesterklavier, Streicher: 14, 12, 10, 8, 6
ORCHESTERAUFSTELLUNG: 1. Klavier/Solo-Klavier mit Sampler vorn, vor dem Orchester, Klavierdeckel geöffnet bzw. ganz ab, Keyboard und Sampler müssen so platziert werden, dass der Pianist auch bei ‚inside-Aktionen’ genug Platz hat. Eine Monitor-Box zum Hören der Samples am Platz des Pianisten wird benötigt.2. Klavier/Orchesterklavier hinten im Orchester, oder aber irgendwo an der Seite, (Flügeldeckel zur Rückwand hin geöffnet, bzw. weg von anderen Instrumenten - es darf so wenig Schall wie möglich von anderen Instrumenten in das Flügelinnere gelangt…) Harfe nicht zu weit weg von den Klavieren…Violinen I und II links/ rechts im Raum verteilt (deutsche Aufstellung), sollte es mehr als 6 Kontrabässe geben, auch diese links/rechts im Raum verteilen.Erste Violine I, erste Violine II, erste Viola und erstes Violoncello möglichst dicht beieinander und dem Soloklavier zugeordnet (Selbst wenn sie auf ihrem Platz bleiben, bilden sie im ersten Teil zusammen mit dem Soloklavier an manchen Stellen eine kleine ‚Extra-Gruppe’).
ALLGEMEINE HINWEISE Zur Kadenz Sie soll weniger virtuoses Zurschaustellen der Fähigkeiten des Solopianisten sein, als vielmehr einen tatsächlichen ‚Raumklang’ evozieren; den Rahmen eines Konzertes quasi überschreiten.Die beiden Klaviere müssen in diesem Teil extrem verstärkt werden; ihr ‚Sound’ (die pedalisierten Tremoli auf den tiefen Flügelsaiten einerseits, und die dichten rhythmischen Oktaven andererseits – beides im ff) soll sich so im Raum verteilen und so ‚vergrößern’, dass der Raum selbst ins Spiel kommt, dass Zentrum und Bühne, vorne und hinten ‚überschrieben’ werden und kein zentralperspektivisches Hören mehr möglich ist. Die dichten Röhrenglockenklänge im Verbund mit den tiefen Kontrabaßglissandi sollen zu dieser ‚Diffusion’ beitragen. Für einen Moment – den Moment der Kadenz – ist man nicht mehr in einem Konzert, sondern ‚woanders’. Die Verstärkung und Wahl der Boxen soll diesen Eindruck unterstützen. Die Länge muss der Gesamtdramaturgie des Stückes Rechnung tragen, d.h. dieser Teil darf nicht zu lang werden. Zum Singen/Summen Ab Takt 243 werden bestimmte Streicher des Orchesters gebeten, sehr sehr leise auf fis1 zu summen (Vokal ‚a’ oder ‚o’, bzw. etwas dazwischen). Der Mund soll dabei ein ganz kleines bisschen geöffnet sein (die Lippen wirklich nur einen Spalt geöffnet!). Es wäre schön und für das Stück hilfreich, wenn die Musiker, für die diese Lage unproblematisch ist, tatsächlich sehr leise diesen Ton summen würden. Bei männlichen Musikern ist auch Kopfstimme denkbar, sofern möglich. Dieses Summen soll sich mischen mit dem Summen auf Band, was zu diesem Teil eingespielt werden wird. Atmen nach Bedarf und möglichst unauffällig, d.h. nach dem Atemholen leise weiter summen. Zum Gesang des Solopianisten am Ende des Stückes Dieser kurze Part muss sehr expressiv-existentiell klingen, eher ‚verzweifelt-rufend’ als tatsächlich ‚gesungen’. Sollte die Stimme dabei zwischendurch weg brechen, macht es nichts, es geht hier eher um einen bestimmten (verzweifelten) individuellen Ausdruck, als um wirklichen ‚Gesang’.
VERSTÄRKUNG: Hinter dem Pult des Dirigenten (vom Publikum aus gesehen) ist ein Kugelkopfmikrophon auf zustellen. Dies hat sich für den Gesamtklang sehr gut bewährt.Die Klaviere müssen sehr gut mikrophoniert werden, möglichst mit mehreren Mikrophonen, z. B: einem ‚Standard-Klavier-Mikrophon’ (Vorschlag: Earthworks PianoMic System, oder auch Shettler-Mikrophone), sowie einem B&K-accelerometer im Baßbereich, das den Vorteil besitzt, einen sehr hohen Lautstärke-Pegel einstellen zu können, ohne zu feed-backen. Auch werden die Geräusche und Töne der anderen Instrumente, die ja immer im Resonanzraum des Klaviers mitschwingen mit dem B&K-accelerometer kaum mit verstärkt – es ist also für dieses Stück ideal in mehrerer Hinsicht ideal. Es gibt mehrere Verstärkungsebenen der Klaviere:z. B. sollen alle ‚Inside-Klänge’ (wie Saitenratschen, Saitenglissandi, geschlagene Saiten, pedalisierte Attacken auf Holz/Metall o.ä.) ‚voluminös’ und mächtig von hinten (quasi hinter dem Orchester, bzw. das Orchester ‚einrahmend’) im ganzen Raum erklingen und den Eindruck erwecken, das Orchester säße und spiele ‚im Klavier’, bzw. im Klangraum/Resonanzraum des Klaviers…Für das solistische Klavier gibt es ‚vorn’ (l, rechts, center ) eine weitere Ebene der Verstärkung, sodaß virtuose Passagen etc. vor dem Orchester zu hören sind.Diese verschiedenen Ebenen sollen u. a. auch durch Lautstärkeregelung der verschiedenen Mikrophone nach Partitur erstellt werden.Ob es entsprechend zwei große Boxen oben hinter dem Orchester und weitere (z. B: l, r, center) vorn am Bühnenrand gibt, womöglich noch weitere im Raum selbst, oder ob man diese Ebenen durch verschiedene Delay-Zeiten simuliert muss mit dem entsprechenden Tonmeister /Tontechniker im Detail besprochen werden. (Z. B. auch die Gefahr von Feed-back etc.). Der Sampler (z. B. Akai 3000 oder 6000) wird mit 6 outputs belegt (jeweils l+r), unterteilt in gesampelte ‚inside-Klavierklänge’, die - wie die ‚echten’ Inside-Klänge von ganz hinten/ quasi hinter dem Orchester, bzw. dieses einrahmend erklingen , sowie andere, z. B. Sprachklänge, die ‚vorn’ zu hören sein sollen. Per DI- Box werden die Ausgänge geroutet…(Inwieweit man klangliche Übergänge zwischen vorn und hinten schaffen muss, ist ebenfalls mit dem Tonmeister/Tontechniker zu klären.) Der Solo-Pianist singt am Ende…und benötigt dafür u. U. ein Head-Set Mikrophon. Der Gesang soll deutlich zu hören sein und gut durch Verstärkung unterstützt werden. Violine 1/I, Violine 1/II, Viola 1, Cello 1 und Cello 2 werden mit Winkler-Mikrophonen o. äh. sehr nah und sehr direkt am Instrument selbst abgenommen, sodaß die Streich- und Bogengeräusche auch gut vernehmbar sind. Sie sind klanglich dem solistischen Klavier zugeordnet und sollen ‚vorn’= l./r./center, also vor dem Orchester lokalisiert werden. Die Klarinetten müssen ggf.verstärkt werden, die Kontrabässe für die Kadenz in jedem Fall.Alle anderen Orchesterinstrumente sollen eine einfache Stützbeschallung erhalten (ev. Pultweise oder sogar nur Gruppenweise). Beim Blech kann u. U. ganz auf Verstärkung verzichtet werden.Allerdings sollen die Streicher – je nach Raumsituation – einen leichten Halleffekt bekommen.
HINWEISE ZU EINZELNEN INSTRUMENTEN: Streicher:Cello 1 benötigt ein Plektrum (der Klang des pizzicatos mit Plektrum muss sehr hart, präzise und ‚knackig’ klingen). Trompeten: Benötigen Harmon-mute, ev. cup-mute Pauken:Basspauke (D-Pauke), Große Pauke (G-Pauke), Kleine Pauke (C-Pauke), hohe Pauke (A-Pauke) Diverse Schlägel:Neben den üblichen auch ein Vibraphonschlägel, Superball und ein Stück Styropor (o.ä.) Hinweis zu Pauken: In Takt 53 ff (Kreuze anstelle von Notenköpfen) wird ein tonloses Wischen gefordert, obwohl Tonhöhen angedeutet sind, wenn möglich das Wischgeräusch einfach entsprechend ein klein wenig verändern (höher oder tiefer); in den Takten 70ff werden Intervalle gefordert, sollten diese nicht möglich sein, bitte nur einen der Töne (möglichst den unteren) spielen.Takt 121+143 notfalls eine Oktave höher. Klavier 1 + Keyboard Es wird entweder ein software - Sampler (Helion) oder ein Akai 3000 oder 6000 benötigt mit ca. 72 MB, der von einem Masterkeyboard getriggert wird. Ferner ein Volume- und ein Holdpedal. Die Sounds liegen auf CD vor und sind Bestandteil des Aufführungsaterials (s. auch ‚Verstärkung’). Sie sind editiert für den für den software - sampler Helion und müssen - sofern der Pianist einen anderen Sampler verwendet ggf. von dem Pianisten entsprechend eingerichtet werden .Der Pianist benötigt ferner ein schnurloses Head-Set, einen Kunststoffhammer, eine Triangel, einen Gummischlauch, ein Stück Kolophonium und ein dickwandiges (Grappa-)Glas.Klavier 2; der Pianist benötigt einen Kunstoffhammer (aus einem Baumarkt) und eine Triangel.
SCHLAGZEUGBESETZUNG: Schlagzeug 1:mittleres Tamtam, Crash-Becken, Kleines (hohes) , mittleres Becken, großes (tiefes) Becken, Snare (kleine Trommel), tiefe Tom, Röhrenglockenspiel mit Pedal (von c1- h1), Glockenspiel, Crotales c4, es 4, c5Diverse Schlägel :Filz, Vibraphonschlägel, Hartholz-bzw. Kunststoff mit Leder überzogen (für Röhrenglocken) ein Stück Styropor, Holzstick, Bogen, Bürste, Besen, (ev. Metallschuhdose statt Holzstick für Tamtam an den Stellen ‚zum Kreischen bringen’) Schlagzeug 2: Mittleres Tamtam, Crashbecken, kleines (hohes) , mittleres Becken, großes (tiefes) Becken, 3 extrem abgedämpfte Becken, Metallblock, Snare (kleine Trommel), tiefe Tom, große Trommel, Röhrenglockenspiel mit Pedal (von c1-h1, um notfalls die anderen beiden Schlagzeuge in der Kadenz zu unterstützen, falls notwendig)Diverse Schlägel :Filz, Vibraphonschlägel, Hartholz-bzw. Kunststoff mit Leder überzogen (für Röhrenglocken), ein Stück Styropor, Bürste, Stricknadel o.ä., Superball, Holzstick, (ev. Metallschuhdose statt Holzstick für Tamtam an den Stellen ‚zum Kreischen bringen’), Hammer, Bogen Schlagzeug 3: Mittleres-großes Tamtam, kleines (hohes) , mittleres Becken, großes (tiefes) Becken, 4 extr. abgedämpfte Becken, Snare, Röhrenglockenspiel mit Pedal (von c1-c2)VibraphonDiverse Schlägel :(Filz, Vibraphonschlägel, Hartholz-bzw. Kunstoff mit Leder überzogen (für Röhrenglocken), ein Stück Styropor, Besen, Bogen, Stricknadel o.ä. Holzstick, (ev. Metallschuhdose statt Holzstick für Tamtam an den Stellen ‚zum Kreischen bringen’)
Programmhefttext zur UA von Torsten Möller Subtile Klarheit? Zu Iris ter Schiphorsts Dislokationen “Ich bin Expertin für das „Dazwischen“. Ich befinde mich immer irgendwo dazwischen, zwischen den Medien, den Stilen, zwischen Schrift und Klang, Hören und Sehen, zwischen Wissenschaft und Kunst, Theorie und Praxis. Es ist dieser Ort, das „Dazwischen“, an dem ich mich besonders gut auskenne, der mich besonders interessiert…”Eine kleine Komponisten-Typologie: Es gibt Tonsetzer, die sich zurückhaltend äußern, andere extrovertiert. Manche bevorzugen spitzfindige Konstruktionen, andere hingegen lassen ihren Emotionen freieren Lauf. Dann gibt es diejenigen, die sich ihre ganze Laufbahn auf das Ausfeilen eines einmal eingeschlagenen Weges konzentrieren. Wiederum andere pflegen einen Zickzack-Kurs, beziehen sich mal auf außereuropäische Musik, mal auf die Kunst Joseph Beuys oder auf die reiche mitteleuropäische Musiktradition.Iris ter Schiphorst ist eine der „Anderen“. Sie lässt sich stets verführen von diversen Einflüssen, probiert Dinge aus, ist einfach zu neugierig auf die pulsierende Welt, um einen einmal eingeschlagenen Weg konsequent zu verfolgen oder so etwas wie einen typischen Personalstil pflegen zu können. Mit Walter Benjamins „Flaneur“ könnte man sie mit Fug und Recht in Zusammenhang bringen – mit jenem durch die Pariser Boulevards streifenden Spaziergänger, dessen Reflexionen ausgehen von Alltagsbeobachtungen, von lebensnahen Erfahrungen und Ereignissen: „Das Staunen treibt mich an. Das Staunen über die Schönheit dieser ungerechten Welt, das Staunen über die Vielfalt, über die Menschen und ihre jeweiligen Universen, die mich immer aufs Neue zutiefst berühren…“ (Iris ter Schiphorst)Ihre Neugierde treibt ter Schiphorst oft aus der Musiksphäre hinaus: Mit Genderfragen hat sie sich lange auseinandergesetzt.In ihrem 2002 entstandenen Musiktheater Eurydice adaptiert sie die Orpheus-Sage, indem sie den Hadesgang aus der bewusst subjektivierten Sicht der Eurydike deutet. Damit räumt sie auf mit der historischen bedingten Beschränkung auf männliche Figuren und gibt sich sogleich als selbst bewusste Frau wie Komponistin zu erkennen. Durchaus denkbar, dass aus diesem Selbstbewusstsein die extrovertierte Kraft ihrer Werke resultiert. Nach der überaus erfolgreichen Premiere ihres „Durchbruchswerks“, der Orchesterkomposition 100,0 bei der Musica Viva im Jahr 1999 schrieb der Musikpublizist Christoph Schlüren, dass ter Schiphorsts Musik „direttissima“ Musik sei, „hochfahrend, lebenslustig und todesfreudig“ und „bei allen instrumentalen Tricks und Extravaganzen nicht die Spur toten Papiers“ trage. Recht hat er, die vielfältigen Inspirationsquellen führen bei der 1956 in Hamburg Geborenen nicht zu spitzfindigen Strukturen, sondern meist zu einem klaren Zugriff. Schnell wird klar: ter Schiphorst ist eine der extrovertierten Komponisten. Es könnte sein, dass dies von ihrer Verwurzelung in der Rockmusik rührt, von ihrer Mitwirkung in der Bremer Band „Bruno und Paul“, wo sie als Bassistin wirkte. Unbedingte „Ausdrucksnot“ angesichts der gemachten gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sei damals ihr Antrieb gewesen. Und auch heute noch steht der zuweilen kompromisslose Ausdruckswille im Vordergrund ihrer Arbeit. Wichtig ist dabei, dass ter Schiphorst Musik als eine Art Sprache sieht, als Möglichkeit, mit ihr über gesellschaftliche Probleme und Themen nicht nur zu reflektieren, sondern auch zu kommunizieren. Die Auseinandersetzung mit Literatur und Literaturwissenschaft zählt zu einem weiteren Faible ter Schiphorsts. Sie lässt sich oft von Schriften inspirieren – im Falle der Dislokationen ist es der Roman Lust von Elfriede Jelinek gewesen und die Tagebücher von Brigitte Reimann –, hat sich aber auch tiefgreifend mit den Unterschieden zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beschäftigt. Charakteristiken der mündlichen Rede – etwa Wiederholungen und das Verwenden spezieller gestischer oder choreographischer Codes – adaptiert sie ganz offensichtlich in ihrer oftmals so erfrischend ungekünstelten „direttissima“ Musik fernab einer zuweilen recht unentspannten Komplexität, die sich in manchen Werken der Neuen Musil letztlich oft selbst aufhebt. Ihr Interesse für „orale Stilistiken“ bringt die Komponistin übrigens mit ihrer Jugend in Zusammenhang. Schon als Kind hörte sie die Wiener Klassiker und suchte sich danach die passenden Töne auf dem Klavier; sogar Beethoven Sonaten spielte sie zuweilen „übers Ohr“ nach. Noten lernte sie später als genaues Hören: „Diese schwarzen Punkte hatten für mich nur sehr wenig zu tun mit dem, was für mich Musik war: Klänge, Töne oder Tonabfolgen, die mich stark berührten, mich direkt ansprachen, direkt etwas in mir in Bewegung setzten, mich dazu brachten, selber Töne und Klänge zu finden oder ‚wieder zu finden’, die mich anregten zu tanzen. Dieser für mich prägende Zugang zur Musik hat dazugeführt, dass Schrift und Klang für mich zwei völlig verschiedene Orte sind, noch heute…“„Verschiedene Orte“ – sie spielen auch in den Dislokationen für Klavier und großes Orchester (2008/09) eine große Rolle. Im Lateinischen bezeichnet der Begriff allgemein eine Lageveränderung, wurde aber in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich verwendet: In der Medizin zum Beispiel ist damit eine pathologische Verlagerung von Knochen oder Organen bezeichnet, im Militärwesen die Verteilung von Einheiten, in der Geologie bezeichnet Dislokation eine durch Faltung, Überschiebung oder Verwerfung gestörte Lagerung eines Gesteins.Für ter Schiphorsts Werk spielt der Titel in mehrfacher Hinsicht eine große Rolle. Auffallend in den Dislokationen ist die differenzierte und mitunter sehr laute Verstärkung und der Einbezug des Konzertraumes. Nicht nur die dominanten Klaviere stattet die Komponistin mit Mikrophonen aus, sondern auch die Violinen und Klarinetten sind mikrophoniert und ertönen so verstärkt über Lautsprecher aus verschiedenen Winkeln des Herkulessaals. Der Klavierpart lehnt sich grundsätzlich nicht an die virtuose, klassisch-romantische Konzertform an. Eine aus der Musiktradition reichlich bekannte Kadenz des Klavierkonzerts kommt zwar vor, doch bietet diese alles andere als eine Plattform für pianistische Höchstleistungen, die Hans Peter Jahn nicht zu Unrecht einmal als „feudalistisches Gladiatorentum“ bezeichnet hatte. Laut Partitur-Vorwort solle die Kadenz „weniger virtuoses Zurschaustellen der Fähigkeiten des Solo-Pianisten sein, als vielmehr einen tatsächlichen ‚Raumklang’ evozieren; den Rahmen eines Konzertes quasi überschreiten.“Räume spielen auch im zeitlichen Ablauf eine große Rolle. Blockartig ist das Werk organisiert, eher dem reihenden Prinzip eines Wolfgang Amadeus Mozart oder Anton Bruckners als dem syntaktischen Prinzip Beethovens verpflichtet. In den Dislokationen geht nicht das eine organisch aus dem anderen hervor, sondern man betritt verschieden möblierte Räume ganz unvermittelt. Mal erscheinen diese karg ausgestattet in ausgedünntem Satz, kammermusikalisch. Und vor allem hier, wo einzelne Instrumente solistisch spielen, ist ter Schiphorsts Wille deutlich, einmal ein untypisches Orchesterwerk schreiben zu wollen. Es gehe ihr auch darum, den Eindruck zu erwecken, dass etwas schlicht „fehl am Platze“ sei, sagt sie.Neben diesen auffallend kammermusikalischen Passagen sind oft auch flächig-subtile Liegeklänge im Pianissimo zu hören, zu denen sich im späteren Verlauf gesummte Vokale vor allem der Streicher gesellen. Dann, ganz abrupt, wechselt ter Schiphorst wieder die Ausdrucks-Charaktere. Kräftig verdoppelte Linien im Unisono und Fortissimo treten zum Beispiel auch hervor. „Extrem hart und kratzig“ sind einige Streicherpartien zu spielen und erinnern so an Paul Hindemiths Hinweis „Tonschönheit Nebensache“, den dieser einst in seiner 1. Bratschensonate notierte. Im wechselhaften Geschehen gibt es das ein- und andere Mal auch Konstanten. Dazu gehören jene Wiederholungen, die ter Schiphorst mit der für sie wichtigen mündlichen Rede in Zusammenhang gebracht hatte. Bestimmte Sechzehntel-Figurationen der Streicher treten häufiger hervor, manchmal in Form eines Zitats, zuweilen aber auch leicht rhythmisch verändert. Nicht immer ist der Bezug zu voran Gegangenem so deutlich. Am Ende greift der Pianist Teile aus dem ersten Teil auf und verschränkt diese in der Vertikalen.Dislokationen schrieb ter Schiphorst für großes Orchester. Dominant sind drei Schlagzeuge, die mit allerhand Utensilien ausgestattet sind und so die ohnehin schon rauschhaft-dionysische Klangvielfalt erhöhen. Typisch für ter Schiphorst ist der Einsatz eines Sample-Keyboards und eines CD-Players. In den Dislokationen sampelt sie vor allem Inside-Klavierklänge, die sie zu einem Großteil gemeinsam mit dem Tontechniker Thomas Hummel im Freiburger Experimentalstudio herstellte. Es sind aber auch Sprachfetzen als „gefundene Objekte“ zu hören, die ganz unvermittelt auftauchen und wiederum „fehl am Platz“ scheinen.Bei aller Betonung der Direktheit ihrer Musik wurde eines oft vergessen: ter Schiphorst ist ausgewiesene Klangfetischistin. Ihre Instrumentationen sind stets minutiös durchdacht und genau ausnotiert. Gleich vier Seiten umfasst ihr Vorwort, indem sie zwar den „labilen“ Bedingungen der Interpretation Rechnung trägt, indem sie manches als Vorschlag notiert, sich aber dennoch mit Fragen der Orchesteraufstellung, mit zu verwendenden Instrumenten, mit der Positionierung der zahlreichen Lautsprecher und vor allem auch mit diversen Spieltechniken auseinandersetzt. Ganz offensichtlich nutzt sie hier die Möglichkeiten der schriftlichen Aufzeichnung und erweist sich so einmal mehr als Expertin für das „Dazwischen“: dieses Mal als kühne Kombinatorin von Schrift und Klang.
Rainer Pöllmann zur Berliner Erstaufführung beim Ultraschallfestival 2011: ›auf der Suche nach dem Erhabenen‹ – so lautet der Titel der Werkreihe von Iris ter Schiphorst, zu der auch Dislokationen für Orchester mit Solo-Klavier und Sampler gehört. Schon bei einem nur oberflächlichen Blick auf das Schaffen der Komponistin wird klar, dass es sich dabei nur um eine vielfach gebrochene Annäherung handeln kann. Dem ›Erhabenen‹ – jedenfalls in der uns auch heute noch gebräuchlichen Erscheinungsform des 19. Jahrhunderts – steht Iris ter Schiphorsts Musik denkbar fern. Sie verrückt es in einen neuen Zusammenhang – und befreit es dadurch von seiner historischen Gebundenheit und furchteinflößenden Größe.›Dislokationen‹ – das sind Lageveränderungen, Verschiebungen. Der Begriff ist in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gebräuchlich, von denen eine kurze Werknotiz im Vorwort zur Partitur einige aufzählt:»In der Geologie bezeichnet er eine durch Faltung, Überschiebung oder Verwerfung gestörte Lagerung eines Gesteins…, ‚im Militärwesen: die Einteilung von Truppen, bzw. die Verteilung von Einheiten…, in der Medizin: eine pathologische Verlagerung von Organen, oder eine Verlagerung, Verschiebung oder Verdrehung von Knochen oder Knochenteilen gegeneinander…, in der Sprachwissenschaft eine markierte Satzstellung…«All das kann man auf die Partitur übertragen. Da gibt es Faltungen und Verwerfungen ebenso wie die Verdrehung von musikalischen Gestalten; und ›markierte Satzstellungen‹, das heißt: die Hervorhebung bestimmter Satzteile durch ihre Position im Satz sind in der Musik gewissermaßen der Alltag.Dislokationen ist kein monolithisches Werk ›wie aus einem Guss‹. Die Wechsel sind mitunter hart und überraschend, die Schnitte unvermittelt. Und manchmal brechen auch Elemente der Unterhaltungsmusik in die ›symphonische‹ Sphäre ein. Wichtig sei ihr der Eindruck, dass etwas »fehl am Platze« sei, sagt die Komponistin. So soll zum Beispiel die Kadenz keineswegs dem Solisten die Möglichkeit zum »virtuosen Zurschaustellen seiner Fähigkeiten« bieten, sondern vielmehr für einen Moment den Eindruck vermitteln, »woanders« zu sein. Eine Dislokation eben.Diesem Ziel dient auch die Verstärkung von Soloklavier, Orchesterklavier, Sampler und einzelnen Instrumenten des Orchesters. Dadurch entstehen besondere Raumwirkungen. So sollen alle Inside-Klänge des Klaviers »›voluminös‹ und mächtig von hinten im ganzen Raum erklingen und den Eindruck erwecken, das Orchester säße und spiele ›im Klavier‹, bzw. im Klangraum/Resonanzraum des Klaviers«, wohingegen die Verstärkung einiger Orchesterinstrumente dazu dient, sie klanglich aus dem Orchester zu lösen und dem Klavier zuzuordnen. Das Klavier und der Sampler werden zu Geschwistern, ›natürliche‹ und ›künstliche‹ Klänge verschmelzen und werden zu zwei Erscheinungsformen des Selben. Umverteilung also auch in einem klanglichen Sinn. © Rainer Pöllmann, Deutschlandradio Kultur, Künstlerischer Leiter Festival Ultraschall BerlinProgrammbuch Festival Ultraschall 2011, Pfau-Verlag Saarbrückenzurück