Programmhefttext: 

‚Le Tremblement permanent du moi- fantôme...pour Adrian Piper’, ein Kompositionsauftrag des herausragenden französischen Ensembles Musicatreize zum Beethovenjahr 2020 unter dem Motto ‚12 Briefe an Elise’ wirft die Frage auf, wer wir – 250 Jahre nach der Geburt Ludwig van Beethovens, heute sind und was von seinen Idealen, seinem Glauben an Aufklärung, Gleichheit, an Recht und Freiheit übriggeblieben ist?

Der Titel meines Werkes weist bereits indirekt auf die radikale Neudefinition des Menschen im 21. Jahrhundert hin.  So ist in der Neurowissenschaft längst nicht mehr die Rede vom ‚Ich’ des Menschen, sondern nur noch von einer ‚Ich-Illusion’.  Und auch der ‚Geist’, das sogenannte ‚Bewußtsein’ des Menschen wird nicht mehr etwa im Immateriellen oder Transzendenten verortet, sondern schlicht in der Chemie und Physik des Gehirns.

Was folgt daraus für die Musik, für die Kunst von heute? Wie gehen Komponisten und Künstlerinnen mit diesem Wissen um? 

Ich selber habe mich entschieden, zum o.g. Anlaß einige dieser Fragestellung in meinen Text mit aufzunehmen.  
Das Libretto beginnt zunächst mit einer Ansammlung kurzer drastischer Sprachbilder, die wie Wahrnehmungssplitter einer ‚Welt aus den Fugen’ in den Raum geschleudert werden, führt im Weiteren kurze Zitate führender Neurowissenschaftler an und endet schließlich – ganz im Sinne der Auftragsgeber -  abrupt mit einem Brief, hier an die amerikanische Konzept-Künstlerin und Philosophin Adrian Piper, die sich, wie seinerzeit Beethoven, auch heute noch den Idealen Kants und einer rigorosen Aufklärung verpflichtet fühlt. So läßt sie etwa in ihrem preisgekrönten Werk “The Probable Trust Registry: The Rules of the Game #1–3”, ausgezeichnet mit dem goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig 2015, die Rezipienten einen Selbstvertrag unterschreiben, der diese verpflichtet, lebenslang im Sinne ethisch-moralischer Lebens-Grundsätze zu handeln.

 Dieser Brief an Adrian Piper - eigentlich eher ein Hilferuf an die Künstler-Kollegin!, - markiert einen drastischen Bruch in der Komposition. In ihm offenbare ich mein Ringen als Komponistin um eine Antwort auf die Frage, was die Aufgabe von Musik, von Kunst heute sei. Dabei wird Adrian Piper, die mich mit ihrer eindeutigen Haltung zu dieser Frage aufs tiefste beeindruckt, durchaus auch als eine Art moralischer Instanz angeschrieben (als die z. B.  Gott längst ausgedient hat...). Denn ich bin als Komponistin in dieser Frage hin- und hergerissen:  

Was ist zum Beispiel mit einer Kunst, die nicht nur der Auffassung Kants folgt, die sich ‚auf den ersten Blick’ also weniger an die Vernunft/den Verstand als vielmehr die ‚affektive Einbindung’ des Rezipienten richtet? Die auf ‚Ansteckung’, auf ‚Infizierung’ setzt? Für eine solche Auffassung stünde u.a. Antonin Artaud, Gilles Deleuze, oder Erika Fischer-Lichte Pate, denen gemein ist, dass sie der Idee der ästhetischen Ansteckung das Potential zuschreiben, das im ‚Selbst’ verborgene Fremde wachrufen und darum letztendlich für ‚den Anderen’ offener machen zu können. Sind also beide Ansätze berechtigt? Oder brauchen wir womöglich heutzutage einen ganz anderen Weg?

Letztendlich werden diese Fragen nur von den Rezipienten entschieden.

Trailer zu Le tremblement permanent du moi-fantôme...

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