Je willkürlicher die Elemente zusammentreffen, umso sicherer erfolgt eine Umdeutung der Dinge durch den überspringenden Funken der Poesie (Max Ernst)

 I) Sprachlosigkeit / Sprache und Musik

Musik, meine Musik, mein Komponieren hat immer auch mit Sprachlosigkeit zu tun, einem Nicht-die-Worte-finden-Können-für- das-was-in-mir-vorgeht – z. B. angesichts der Grundausstattung des Anthropos, seiner Grausamkeit, seiner Gewalttätigkeit, seiner Skrupellosigkeit – meiner inbegriffen. An anderer Stelle habe ich meine Musik in diesem Zusammenhang eine ‹psycho-somatische Reaktion› genannt. Dieser Begriff trifft es – vielleicht – ein bisschen. Warum interessiert mich dann aber die Kombination von Sprache und Musik so sehr? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund. Diese beiden Pole – Sprache auf der einen und Musik auf der anderen – sind für mich extreme Gegensätze und gehören doch für mein Komponieren, bzw. für das, was ich möchte zusammen.

 

«Musik», sagt Jan Assmann «ist an sich a­semantisch, ihr fehlt, was man in der Sprachwissenschaft ‹double articulation› nennt, die Artikulation diskreter Einheiten auf den beiden Ebenen der Laute (‹Phoneme›) und des Sinns (‹Seme›). Sie kennt – zumindest von Haus aus – nur die Ebene der Laute.»1 Peter Fuchs, ein Schüler Niklas Luhmanns, übersetzt dieses Fehlen von Sinn im Duktus der Systemtheorie: «In der Musik begegnen psychische Systeme der reinen Sinnform, aber ohne Fremdreferenz, paradox gesagt: jene Begegnung ist eine Konfrontation mit Sinnlosigkeit.»2

Dieses Fehlen von Sinn in der Musik beschäftigt auch den Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, wenn er beispielhaft für die Musik über den Gesang des Orpheus sagt, dass er, «so zauberhaft er auch gewesen sein mag, letztlich nichts weiter gewesen sei als ein reflexionsloser Schöpfungsakt – reflexionslos, weil er den Tod aus seiner Schöpfung ausschloss, jedenfalls, solange der Gesang (die Musik) währt. Die Mauern, die er wachsen ließ, waren nicht von Einsturz bedroht, die Tiere, die er auf seine Lichtung bannte, ihrem Trieb entfremdet, das Totenreich, das er beschritt, erstarrte vor seinem Gesang, anders gesagt: die monotonen Tätigkeiten der Verdammten, mit denen sie ein sinnloses Erdenleben fortsetzten, realistisch es so erst sichtbar machend, wurden noch um ihren letzten trostlosen Zusammenhang mit dem Leben und dessen, möglicherweise es verändernder, Erkenntnis geprellt».3

 

Auch mir ist Musik– paradoxerweise – oft zu wenig ‹semantisch›. Das ist ihr Faszinosum und ihre Achillesferse. Insofern sind diese beiden Pole Sprache und Musik für mein Komponieren elementar. Immer wieder habe ich versucht sie in meinen Werken auf unterschiedliche Weise zu verbinden.

 

II) Verkörperung / Nachleben

Vielleicht ist es ein Wagnis, die von Helga Utz vorgestellten alten Texte aus dem arabischen Raum, vornehmlich aus der vor- und frühislamischen Zeit, in dieses Projekt und in meine Musik einzubeziehen. Eine Lyrik, die uns zunächst fremd ist, zeitlich, räumlich und sprachlich weit entfernt, zudem verformt und verfremdet durch unterschiedliche Übersetzungsprozesse.

 

Der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929), auf den ich mich im Folgenden beziehen werde, denkt «Kultur als ein Kraftfeld psychoenergetischer Vektoren, die innerhalb überhistorischer Frequenzbreiten hin und her schwingen und transistorische Cluster heterogener kultureller Elemente bilden.» 4

 

Für ihn ist «die Überlagerung von memorialen Schichten und die Überkreuzung von kulturellen und religiösen Energien in einem Werk, einer Person, einer Epoche (...) der kulturelle ‹Normalfall›»5, vor allem in einem sich «‹ursprungshaft geschlossen› missverstehenden Europa».6


Aby Warburgs geistiger und räumlicher Bezugspunkt ist ein synkretisches Europa, mit den «schöpferischen Kraftfeldern Babylon, Athen, Alexandrien, Jerusalem, Rom als das Urprägewerk europäischer Mentalität, (...) eine historisch ausdifferenzierte Figur von kulturellen Austausch-, Wanderungs- und Interferenzprozessen.»7
Ein solch synkretisches Europa hat eben «keinen ‹Ursprung›, der Einheit und Homogenität noch in der Differenz garantiert».8

 

Dennoch gibt es laut Warburg einen gemeinsamen «pathischen Grund» – er spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem «überhistorischen Leidschatz der Menschheit», einem «Prägewerk der Affekte». Nach Warburg verweisen sowohl Religion als auch Kunst dauerhaft auf dieses vitale Prägewerk der Affekte und entwickeln in Auseinandersetzung damit ihre Formen.

Ich führe hier diese Überlegungen an, weil wir im Sinne Aby Warburgs glauben, dass es auch in diesen alten, unserem Libretto zu Grunde liegende Texten abgespeicherte affektive Resonanzräume gibt, die möglicherweise in einem «Nachleben», einer buchstäblichen Verkörperung aktiviert werden können. Dabei geht es nicht um Fragen nach dem Original-Sinn oder einem Urtext, an den wir mit Aby Warburg grundsätzlich nicht glauben.

Aber wir glauben an die Möglichkeit gespeicherter affektiver Resonanzräume, die im besten Fall wiederbelebt werden können, nicht nur als Zeichen einer fremden Vergangenheit, sondern als Splitter einer möglichen Zukunft.

 

III) Die Komposition/ Kontextualisierung

Uns geht es in diesem Projekt nicht um eine Vertonung dieser Texte, sondern darum, ihnen einen Raum und einen Körper zu geben. Insofern handelt es sich bei unserem Projekt eher um Musik-Theater als um ein Konzert. Es geht darum, die Kraft dieser

Texte in einer Landschaft aus Musik auszuloten, die nicht bebildert, die nicht vertont, die ihre eigenen Wege geht, ihren eigenen Sinn ausdrückt...

Es geht um temporale und räumliche Verflechtungen von Musik und Sprache, von Klang und Körper, um Verdichtungen und Verschiebungen, darum, ungehörte Resonanzräume erlebbar zu machen.

 

IV) Musik-Theater / Kampf um die Körper

Aber diese Texte können diesen Raum nur füllen, sie können Kommunikation nur stiften, wenn die Darstellerin Salome Kammer diese Texte durch ihren Körper hindurchlässt – wenn sie die in ihnen abgespeicherten affektiven Resonanzräume wirklich durchlebt. Denn erst, wenn ihr Körper die Texte durchquert hat und von ihnen kontaminiert ist, erst wenn die Körper der MusikerInnen die Zeichen der Partitur, die musikalischen Texte durchquert haben und von ihnen kontaminiert sind, kann sich ein musik-theatraler Raum der Erfahrung auch für den Zuschauer öffnen. Erst in dem Moment, in dem es tatsächlich zu einer Bündelung von affektiver leiblicher Energie kommt, kann das sinnlich-geistige Erlebnis der Zuschauer zur Erfahrung werden, kann ein Funke überspringen.

 

Und selbst wenn es nur ein Funke ist, der Fremdheit auslöst oder Irritation, bleibt diese Erfahrung. Vielleicht öffnet sie uns im besten Falle für das Fremde – für das Fremde im Selbst .

 

 

FUSSNOTEN
1 Jan Assmann, Pathosformeln, Figuren und Erinnerungsmotive in Mozarts Zauberflöte, in: Herbert Lachmayer (Hrsg.), Mozart. ExperimentAufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Ostfildern 2006, S. 781–789.


2 Peter Fuchs; Der Fuß des Leuchtturms liegt im Dunkeln oder: Auch in Heideggers Kopf ist Platz für eine Butterblume (aus dem Privatmanuskript).

3 In seiner Rede bei der Entgegennahme des Sigmund-Freud-Preises: «Orpheus /Antiorpheus /Prosa» in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/klaus- heinrich/dankrede.

 

4 Die folgenden Zitate habe ich dem Text von Hartmut Böhme entnommen: «Aby M. Warburg» (1866–1929), in Axel Michaels (Hrsg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade; München 1997, S. 133–157, hier zitiert aus der online-Version des Artikels: https://www.hartmutboehme.de/media/Warburg.pdf S. 24. 5 Ebd. S. 33. 6 Ebd. S. 24. 7 Ebd. S. 13. 8 Ebd. S. 33.

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