Iris ter Schiphorst: in Hören - Eine vernachlässigte Kunst? (herausgegeben von Karl-Heinz Blomann und Frank Sielecki, Wolke Verlag 1997), Seite 121-133
Hören – Eine vernachlässigte Kunst?
hg. v. Karl-Heinz Blomann u. Frank Sielicki
Auszug:
Ist Hören für Sie eine vernachlässigte Kunst?
I.t.S.: Ja, wenn man die Betonung auf ‚Kunst’ legt. Denn im Alltag ist das Hören keineswegs vernachlässigt, im Gegenteil. Wie leben von A-Z (!!) in einer Hörkultur: Angefangen von der Sprache, wie wir sprechen, bis hin zur Schrift, die wir schreiben.
Wenn Sie Hören und Sehen vergleichen: Würden Sie dann immer noch sagen, dass der Schwerpunkt auf dem Hören liegt?
I.t.S.: Hören ist die Grundvoraussetzung unserer Kultur. Denn Hören ist ja zusammen mit dem Sprechapparat primär am Kommunikationsvorgang beteiligt. Wir kommen vie Ohr zur Sprache und werden mittels auditiven Zeichen zu Subjekten. Das Ohr ist so mit Schaltstelle für Kommunikation, und das alltägliche ‚Hören’ nichts weniger als eine permanente ‚Übersetzung’ von Lauten in Sinn. Ein hochkomplexer, abstrakter Vorgang, der von Geburt an ‚trainiert’ wird! (Bei Gehörlosen übernimmt übrigens das Auge diese Art der ‚Übersetzungsarbeit’, jedoch nur dann, wenn es die Chance erhält, sich an Sprache anzukoppeln, d.h. wenn es mit visuellen Zeichen – der Gebärdensprache – ‚gebildet’ wird.)
Insofern kann man also mit Fug und Recht behaupten, dass wir in einer Kultur leben, die ihren Ausgang von auditiven Zeichen nimmt. Vom ersten Tag an werden wir einer Art Gehörbildung unterzogen, werden Sprachlaute in uns eingeschrieben. Das Hören wird somit via Sprache von Anfang an ‚diszipliniert’, bzw. ‚kastriert’ und unser ‚Sprechapparat’ auf ein Standardmaß zurecht geschliffen, das allgemein gültig und damit verständlich ist. Im vorsprachlichen Alter, in der so genannten ‚Lall-Phase’ haben Kinder noch einen ungleich reicheren Lautschatz, können wesentlich differenziertere Töne von sich geben, als später, nach vollzogenem Spracherwerb. Das heißt aber auch, dass sich ihr Hören – und damit ihr ‚Äußern’ – noch nicht den auditiven Zeichen unserer Kultur unterworfen hat; es ist in gewissem Sinne noch ‚frei’, noch nicht eindimensional auf Verstehen ausgerichtet, noch nicht mit Lauten ‚beschrieben’.
Aber unserer Kultur ist das Hören selbst weniger bewusst als das Sehen?
I.t.S.: Ja, da würde ich Ihnen zustimmen. Hören hat in der klassischen europäischen Konstellation ja immer nur eine pragmatische, kommunikative Dimension, die theoretische Vernunft und Erkenntnis gilt hingegen als Domäne des Auges. Allein der Begriff ‚Reflektion’ verweist auf das Sehen. Das Verrückte daran ist meiner Meinung nach jedoch, dass Anschauung und Erkenntnis in einem System ‚niedergelegt’ werden, das selbst nicht anschaulich ist, sondern eigentlich dem Ohr gehört und sich ‚ursprünglich’ einer Total-Analyse des Lauts verdankt! Man darf nicht vergessen, dass in der phonetischen Schrift nicht nur immer auch eine unsichtbare Stimme mitläuft – z. B. war ‚Lesen’ bis von cirka 200 Jahren ein ‚lauter’ Vorgang, war ‚Schrift-Sprechen’ - , sondern im eigentlichen Sinne ja gar nichts zu sehen ist, zumindest nichts aus dem Bereich der ‚Sichtbarkeit’. Die lesenden Augen müssen, sofern sie verstehen wollen, ‚Wesenheiten’ jenseits des Gesehenen imaginieren, also jenseits der graphischen und auditiven Zeichen!
Vor diesem Hintergrund scheint mir die allerorten viel zitierte Dominanz des Sehens eher ein Ableger dieser ‚Sichtweise’ zu sein, bzw. einem Blick zu gehorchen, der viel zu sehr mit dem ‚Jenseits’ beschäftigt ist, als dass er seine Gründe wahrnehmen könnte.
Wie erklären Sie sich denn, dass im Bereich der Wahrnehmungsphilosophien das Hören keine Rolle spielt?
I.t.S.: Ich glaube, dass der gesamte Bereich des Hörens zu selbstverständlich ist. Sprechen und Hören scheinen quasi ‚natürliche’ Vorgänge zu sein. Sie sind daher schon immer vom Denken vernachlässigt worden.
…
Hängt Hören also weniger mit Erkenntnis zusammen als Lesen?
I.t.S.: Ich glaube, beim Lesen ist das Ohr – und damit das Hören - sehr wohl am Erkenntnisprozess beteiligt, jedoch auf eine komplizierte, quasi ‚unsichtbare’ Weise. Das hat mit unserer Sprache und Schrift und ihrer engen Verbindung zu tun. Sprache und Schrift bilden zusammen ein System. Das Ohr hat darin die Aufgabe, die auditiven Zeichen der Sprache zu ‚übersetzen’ (zu lesen, wenn man so will) und das Auge die visuellen Zeichen der Schrift. Beide Zeichen sind jedoch in unserer Kultur unwiderruflich miteinander verschränkt und bedingen einander. Das heißt, dass in diesem System Auge und Ohr gleichermaßen am Erkenntnisakt beteiligt sind.
Man könnte sich also fragen, ob es eine Erkenntnis jenseits dieses Systems gibt, also jenseits dieser Einheit von phonetischer Sprache und Schrift. Hat das Sehen, das Betrachten von bildender Kunst etwas mit Erkenntnis zu tun? Hat ‚Hören’ von Musik etwas mit Erkenntnis zu tun? Ist es eine andere Art der Erkenntnis, die da passiert? Und wenn ja, welche?
…
Sie sagten vorhin, dass Sie über die Auseinandersetzung mit den Poststrukturalisten zur Neuen Musik gekommen seien – Ist das nicht ein Widerspruch zu der sehr sinnlichen Ebene, die Sie jetzt bei Ihrem Hören geschildert haben?
I.t.S.: Ich glaube, das, was man den Poststrukturalisten verdankt, ist doch gerade die Wiedereinführung des Körpers in das Denken. Die Einführung des Begehrens, des so genannten ‚Unbewussten’…Nehmen Sie z. B. Roland Barthes (der meiner Meinung nach wunderschöne Sachen zur Musik schreibt): „Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich“. Insofern sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch. Das Problem, was sich auftat, war eher ein ganz anderes.
In den Texten, die ich las, konnte ich irgendetwas von mir wieder finden; es war dort etwas ausformuliert, das mich bewegte, das mich berührte. Das Misstrauen gegenüber der Ratio, das Misstrauen gegenüber der Sprache, das Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Ideologie, um nur einiges zu nennen.
Ich erwartete von der ‚Neuen Musik’ etwas ähnliches; irgendein ‚Berührt-sein’, irgendein ‚Bewegt-werden’, irgendeine ‚sinnliche Aufregung’, irgendeine ‚Lust’. Stattdessen war das, was ich da fand, oft einfach ziemlich langweilig. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich oftmals nach einem Konzert war und wie sehr mich diese Enttäuschung beschäftigt hat. Manchmal habe ich gedacht, dass ich vielleicht zu sehr ‚verschriftet’ bin mit klassischer oder so genannter Rock-Musik, dass der Mangel also in und bei mir liegt, dass ich auf Grund meiner ‚Einschreibungen’ nicht in der Lage bin, den Genuss zu erleben…
…
Gibt es für Sie richtiges und falsches Hören?
I.t.S.: Nein, das sind Kategorien, die mir bezogen auf das Hören völlig unsinnig zu sein scheinen. Woran will ich festmachen, ob Hören richtig oder falsch ist, oder wer sagt, was ‚richtiges Hören’ ist? Das sagt vielleicht jemand wie Adorno. Absurd.
Adorno legte einerseits stärkstes Gewicht auf die jeweils individuelle Lust und Sinnlichkeit, andererseits hat er ein solches Misstrauen gegen die Warenkultur und die ‚Verblendung’, dass er an vielen Stellen meinte, er müsse seinen Zeigefinger heben und sagen, was richtig und was falsch ist.
I.t.S.: Wer denkt, Neue Musik hätte nichts mit ‚Warenkultur’ zu tun, ist meiner Meinung nach völlig naiv. Was bleibt mir anderes übrig, als meinen Sinnen zu trauen, meinem Begehren zu folgen, meiner Liebe… Es gibt keinen Wert an sich, auch und erst recht nicht in der Musik. Insofern bin ich verblendet, wenn ich Adornos Zeigefinger ernst nehme…
Aber die ‚hermeneutische Musikwissenschaft’ empfand sich ja schon immer als d i e Instanz in Sachen ‚Hören’! Und Schutz vor ‚Verblendung’, bzw. vor den „Gefahren und der Schmach einer rein physischen, animalischen Musikaufnahme“ (Kretzschmar) war von jeher ihr Anliegen! Insofern steht Adorno in guter Tradition – und in dieser ist – wir wissen es spätestens durch die ‚Einleitung in die Musiksoziologie’ – der beste Hörer der Musikwissenschaftler selber!