Iris ter Schiphorst: Ohrsinn/Unsinn/Eigensinn – eine kurze Abhandlung über Schrift, In: Kommunikation und Ästhetik, Ausgabe 101, Juni 1998



„Wenn es etwas gibt, das uns die Dimension de Geschriebenen näherzubringen vermag, so die Erkenntnis, dass das Signifikat nichts mit den Ohren zu tun hat, sondern nur mit dem Lesen dessen, was man unter dem Signifikanten versteht. Das Signifikat ist nicht das, was man hört. Was man hört (versteht), ist der Signifikant. Das Signifikat ist das Ergebnis des Signifikanten.“
(Jacques Lacan)

Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die einem ganz bestimmten Blick gehorchen, und zwar einem durch die phonetische Schrift geprägten.
Dieser Blick ist ins Jenseits gerichtet und darin geübt, in Zeichen, die nicht auf das Sichtbare verweisen, zu visualisieren.
Es ist ein durch das Hören gestählter Blick, in den sich die Linearität und der horizontale Verlauf einer (imaginierten) Stimme eingeschrieben hat.
Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die einem Blick gehorchen, der auf unsichtbare Weise mit den Ohren verbunden ist.

Denn ‚Sinn’ beginnt sich erst mit dem Sieg des Gesichtsinns über den Handsinn zu etablieren, resultiert aus der Verengung zweier bis zum Zeitpunkt des phonetischen Alphabets heterarchisch zueinander stehenden Systemen, dem visuellen und dem auditiven zu einem Sinn.

Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die einem durch die phonetische Schrift geprägten Blick gehorchen, der darin geübt ist, graphisches und lautliches Symbol unter Verzicht auf die Anbindung and das Sichtbare zu koppeln.
Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die durch einen an der phonetischen Schrift geschulten Blick zum Stand kommen, durch einen Blick der ‚ins Jenseits’ gerichtet ist, der hinter der Schrift Bilder hört und Klänge sieht, der ‚liest’.

In der Musik gehört dieser lesende, ins Jenseits gerichtete Blick ausschließlich dem Musikwissenschaftler.
Er ist derjenige, der den Sinn der Musik etabliert.
Der ihre ‚Logik’ herausbuchstabiert.
Der ihre Schrift zum ‚Wesen’ erklärt.

Voraussetzung dafür war, dass auch in der abendländischen Musik das Auditive und das Visuelle mehr und mehr miteinander gekoppelt wurden.
Noch bis in die Neuzeit hinein bildeten Notation und Musikklang zwei heterarichische Systeme, waren graphische Symbole Anstoß für die Ausführung und setzten selbstverständlich einen oralen Kontext voraus.
Aber der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch, etwa zeitgleich mit der Erfindung des Lithographiedrucks, dem Aufkommen der ‚reinen Instrumentalmusik’ und dem Projekt der Alphabetisierung der Bevölkerung, wurden Notation und Klang jedoch mehr und mehr ‚in Deckung’ gebracht. Aus den graphischen Symbolen wurde eine ‚richt5ige (Noten-)Schrift, die nicht mehr nur Anweisungen für die Ausführenden fixierte, sondern das Klangergebnis notierte, sodass ein ähnlich abbildendes Verhältnis zwischen Laut und graphischen Symbol entstand wie im phonetischen Alphabet.

Zum gleichen Zeitpunkt beginnt sich der Blick in der Musik zu verändern. War er bis dahin fast ausschließlich an die Ausführung gekoppelt, an die Praxis (den ‚Handsinn’), beginnt sich unter dem Namen ‚Musikwissenschaft’ nun vermehrt jener an der ‚heiligen phonetischen Schrift’ geschulte Blick durchzusetzen, jene spezifische Operation namens ‚Lesen’, die dazu führt, innerlich zu visualisieren und zu hören.

Erst dieser Blick, der des lesenden Musikwissenschaftlers, führt den ‚Sinn’ in die Musik ein.
Erst dieser Blick begründet überhaupt die neuzeitliche Musikwissenschaft, die sich von nun an anschickt, den ‚Sinn’ der Musik in ihren Texten zu ver-dichten.

Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die nichts mit den Ohren zu tun haben.
Sinn und Un-Sinn sind Kriterien der Schrift, die dabei ist, ihre Vormachtstellung einzubüßen.
Sinn und Un-Sinn sind Kriterien, die im Territorium der neuen audiovisuellen Medien keine Bedeutung mehr haben.

Denn dort geht es um den Ohrsinn und nicht um das Auge, zumindest nicht um jenen lesenden Blick des neuzeitlichen Musikwissenschaftlers, der darauf fixiert ist, auch aus der Musik Sinn und Logik herauszubuchstabieren.
Dort geht es um Klang und nicht um Schrift, um das Hören und nicht um jene akademische Hörtradition, die in Wirklichkeit eine Lesetradition ist und sich durch die hermeneutisch orientierte Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert herausgebildet hat.
Im Territorium der Neuen Medien geht es um Sound, um Wellen und Frequenzen statt um die Ordnung der Buchstaben.
Im Territorium der Neuen Medien geht es um das Hören als ‚eigener Sinn’, als eine von der Schrift und dem Blick unabhängige Praxis.
Um ein Hören, das nichts mehr mit Gehorchen zu tun hat.
Um ein Hören, das nicht einfach nur im Verstehen ‚aufgeht’.
Um ein Hören, das den blinden – und den sehenden – Gehorsam verweigert.
Um ein Hören, das aktiv ist.
Um ein Hören, das den Körper in Bewegung bringt.
Um ein Hören, das nicht einfach nur empfängt, sondern sendet.
Um ein Hören, das nicht in der Schrift verschwindet, sondern selber ‚schreibt’.
Das nicht gehorcht, sondern praktiziert. Sound.
Im Territorium der Neuen Medien geht es um das Hören als ‚eigener Sinn’, um ein ganz bestimmtes ästhetisches Verhalten.
Im Territorium der Neuen Medien geht es um den Eigensinn und nicht den ‚Einen Sinn’.
Im Territorium der Neuen Medien geht es um Individualität und nicht um Idealität.
Im Territorium der Neuen Medien spielen Sinn und Un-Sinn keine Rolle mehr.

Ver-sprochen…

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