Iris ter Schiphorst zu: ‘Zerstören’ im Programmheft der Wittener Tage für neue Musik 2006
Programmhefttext zur UA von Zerstören (Witten, 2006)
Anmerkungen der Komponistin
Auf Grund der aktuellen Nachrichtenlage könnte man zu dem Schluß kommen, daß eine neue Form der Irrationalität auf dem Vormarsch ist, daß archaische ‘Leidenschaften’ und brutale Gewalt zunehmend das globale politische Geschehen beherrschen, daß Werte und Normen, die sich im sogenannten Westen im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung nach und nach durchgesetzt haben, immer mehr an Bedeutung verlieren und überdies nicht unbedingt exportierbar sind. Was vielleicht nicht wirklich erstaunt, sind doch die existentiellen metaphysischen Fragestellungen im Prozeß der Aufklärung allmählich in den Hintergrund gedrängt und den Religionen überlassen worden. Aus dieser ‘Ecke’ holen sie uns offenbar nun wieder ein, ins Monströse verzerrt und vergrößert; besonders für Frauen eine fatale beängstigende Entwicklung.
Jedenfalls sind die Bilder, die derzeit um den Globus gehen, recht eindrücklich und ich merke, daß sie etwas mit mir machen, daß sie mich verändern. Daß etwas in mir geschieht. Darum geht in Zerstören. Man könnte auch sagen: Zerstören ist der Versuch, meine psycho-somatische Reaktion auf diese Vorgänge in Klang zu übertragen.
Zu Beginn der Arbeit war ich mir nur des ‘Klimas’ bewußt, das im Stück vorherrschen sollte:
eine Art ‘Grund-Aufgeregtheit’, bzw. Anspannung, immer wieder unterbrochen von pseudo-pathetischen Ausbrüchen oder auch lauernder Stille.
Darüberhinaus gab es in mir von Anfang an einen ‘Grundton’, der das zukünftige Stück durchziehen sollte: ein dreckiges sandiges Gelb. Dann fiel mir auf, daß sich in mir – je länger ich mich mit Zerstören beschäftigte – mehr und mehr ein ‘innerer Film’ ver-dichtete, der irgendwann zu einer Art ‘Vorlage’ für den Kompositionsprozeß selbst wurde. Dieser ‘innere’ Film hat keine Handlung und besteht eigentlich nur aus immer wiederkehrenden kurzen dokumentarischen Bildausschnitten, die ein- und ausgeblendet werden, sich überschneiden mit anderen Bildausschnitten, an anderer Stelle in anderer Perspektive und in anderem Tempo wieder kurz auftauchen, wieder verschwinden usw. Es sind immer mehrere dieser Bildausschnitte gleichzeitig zu sehen, das heißt, die Bildoberfläche / der ‘screen’ ist mehrfach unterteilt. Die einzelnen Bilder sind nur schemenhaft zu erkennen, als wäre die Kameralinse bei den Aufnahmen zerkratzt gewesen.
Die Konstruktion dieses ‘inneren Films’ hat mich durch den Kompositionsprozeß geleitet, ebenso wie das ‘Klima’ und der von Anfang an vorhandene ‘Grundton’: Zerstören besteht in der Vertikalen aus mehreren Schichten, die sich überlagern und sich beständig ein- und ausfaden. Zum Teil ist es sich wiederholendes Material, das jedoch bei jedem Wiederauftauchen in andere Zeiten und andere Kontexte gesetzt wird. Nur ab und an etablieren sich daraus Einzelstimmen. Die tiefen Register dominieren.
Es gibt einen innerlichen ‘dauer-erregten’ Puls (Metrum: Viertel = 120), der fast das ganze Stück durchzieht. Konkrete Klänge sind bis auf wenige Ausnahmen unerwünscht. Es überwiegt ‘Dreck’. bzw. Geräusch. Die Verstärkung der Instrumente dient zur Intensivierung ihrer Klänge – und des ‘Drecks’. Ebenso die Hinzunahme des Samplers. Manchmal gibt es pseudo-leidenschaftliche Ausbrüche.
(Iris ter Schiphorst)