über Iris ter Schiphorst

Nauck, Gisela: Iris ter Schiphorsts Orchesterballade Hundert Komma Null. In: Positionen 44.2000, S. 45/46.

in: Zeitschrift: Positionen 2000

Nach der 3 D Opera Anna’s wake (1993), dem Musik-Video-Theater Silence moves (1997, UA Dresden) sowie mehreren großen Gemeinschaftsarbeiten zusammen mit Helmut Oehring, darunter das Requiem (1998, UA Donaueschingen) und das Tanztheater Bernarda Albas Haus (1999, UA Basel/Rom/Berlin), legte die 1956 in Hamburg geborene Iris ter Schiphorst nun ihre erste Orchesterkomposition vor. Und getreu ihres künstlerischen Werdeganges als Pianistin, als Bassistin und Schlagzeugerin in verschiedenen Rockgruppen und als Komponistin, die zudem Philosophie, Kultur- und Theaterwissenschaften studiert hat, ist es ein in der Orchesterlandschaft unakademisch querständiges Werk: in Sound und Rhythmus unverhohlen der emotionalen Wahrhaftigkeit und unverstellten Sinnlichkeit von Rock- und Soulmusik verpflichtet, zwischen auswegloser Melancholie und radikal zermalmender Lebenslust; beide Emotionsbereiche dominieren das siebzehnminütige Werk. Die Ballade für Orchester, wie der Haupttitel lautet, verdankt sich einem Kompositionsauftrag der musica-viva-Konzerte München und wurde am 12. Februar 2000 im Herkulessaal der Bayerischen Landeshauptstadt durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Martyn Brabbins uraufgeführt.
Die Genrebezeichnung Ballade gilt in doppeltem Sinne, inhaltlich als dramatische Erzählung sowie formal als siebenteilige Rondo-Form. So genannte Maschine-Abschnitte wechseln mit Strophen und namenlosen Abschnitten, den Schluß bildet ein Refrain, der nicht wiederkehrt. Sie sind hart aneinandergeschnitten, wie herausgebrochen aus größeren Zusammenhängen und bilden drei attacca verbundene große Teile:
I BESSER (1. Strophe; Maschine A; 2. Strophe; Maschine B)
II LESE ( …; 3. Strophe; …
III LEBEN, DAS IST … (Maschine C; Refrain).
Die musikalische Erzählweise gleicht allerdings keineswegs einer sukzessiven Verlaufsform, sondern breitet vielmehr emotionale Zustände aus, treibt diese in beklemmende Tiefen und kontrastiert sie mit schonungslosem Realismus. Überhaupt komponiert Iris ter Schiphorst eher mit Klangzuständen, mit energetischen Klangfeldern, als daß sie Töne oder Tongruppen zusammensetzt, um damit bestimmte Wirkungen zu erzielen.
Jene kürzelhaften Überschriften, Andeutungen von etwas, stammen aus einem der Anagramme der 1916 in Berlin geborenen, vom deutschen Faschismus vertriebenen Malerin und Schriftstellerin Unica Zürn, die im Paris der 50er Jahren mit den Surrealisten sympathisierte und sich im Alter von sechzig Jahren das Leben nahm. Die Schlußzeile jenes Anagramms, aus der die Überschrift von Teil III stammt, heißt vollständig und lapidar: »Leben, das ist schrecklich«. Das vollständige Anagramm, das die Partitur mitteilt und den Strophen zugeordnet ist, lautet:
»Besser
stick ich lachend Asse, (1. Strophe)
Dreck in’s Blendlicht schandstrickbleich. (2. Strophe)
Lese
schlicht als dicker Besen: (3. Strophe)
Leben das ist
schrecklich.« (Refrain)
In solch inhaltlicher Zuspitzung, die in ter Schiphorsts Komposition eine inhaltlich notwendige Abstraktion bedeutet, verdichtet sich die Ballade zum Requiem auf eine »Koinzidenz von Zeit und Raum … mit dramatischen Konsequenzen«1 an einem Kilometerstein 100,0.
Das auffälligste Kennzeichen dieser Musik sind ein Sound aus klanglichen Extremen – sie betreffen die Schäbigkeit, Zerbrochene von Tönen ebenso wie das Schrille oder enorme Lautstärken – und strukturell harte, »gnadenlose« Schnitte. Dieses Bis-zum-äußersten-Gehen spiegelt sich bereits in der Nutzung des Orchesters als Soundinstrument. In allen Instrumentengruppen dominieren die tiefen Register, die Blechbläser sind stark besetzt. Erweitert wird das Symphonieorchester (ohne 2. Violinen, Fagotte und Violen, also bei ausgedünnter Mittellage) um präpariertes Klavier, Sample-Keyboard und drei Schlagzeuger. Besondere Anweisungen für die Mikrophonierung und vor allem entsprechende Spielanweisungen verhindern generell einen »schönen« Orchesterklang. Diese lauten etwa: »Krank, verschleiert, dunkel, dennoch sehnsuchtsvoll, mit viel Geräusch«, »metallisch fremd«, »Stöhnen: unbestimmte Tonhöhe, jedesmal anders«, »pizz. mit Plektrum«, »nur Luft, hart abreißen«, »quetschen, Tonhöhe ansteigend«, »brüchig, jeden Ton ersterben lassen«, »zum Kreischen bringen«, »dreckiges Gliss.« – und immer wieder »Stöhnen«, »mittleres Stöhnen«, »tiefes Stöhnen«. Diese stöhnenden Töne, ein mühsames, gequältes Hervorbringen also, ist typisch für die Maschine-Teile, ebenso deren orgiastische Rhythmik.
Das Kernstück der Ballade, das die Emotionen der Trostlosigkeit und Lebensintensität ineinssetzt, bricht im ausgedehnten Mittelteil Lese kurz nach der zeitlichen Mitte der Komposition für wenige Sekunden unvermittelt ein: die Titelzeile aus James Browns atemberaubendem Soultitel von 1965 Its’ a man’s, man’s world. Davor: Trostlosigkeit, die Zeit zum Stillstand bringt, dann sechs Sekunden mörderisches Pathos, sechs Sekunden James Brown vom Sample-Keyboard, sechs Sekunden Trauermarsch im Jahrmarkstorgelsound – danach Ton-, Melodiefetzen, Metallschläge, Unformbares, Stehenbleiben von Zeit, Leere … und die 3. Strophe. In diesen zwölf Takten bricht eine Welt aus den Fugen. Mit solchem Hörerlebnis in Ohr und Kopf hat der sich anschließende, archaische Maschine-Teile seine Kraft verloren, obwohl zunächst genau dieselben Noten wie bei Teil A und B gespielt werden. Aber die Wirkung ist eine andere. Auch dieses Komponieren auf der Basis von Erlebniswerten durch Hören ist wohl typisch für Iris ter Schiphorst. Der Teil Maschine C wird schließlich auch strukturell löchrig, läuft in repetitiven Ketten leer; was bleibt ist das Eingeständnis einer unstillbaren Sehnsucht.
Daß musikalische Emotionalität aber wieder so unmittelbar und intensiv möglich ist, ohne nostalgisch oder verbraucht zu wirken, hat offenbar ganz wesentlich mit jenem musikalischen Ganzheitsdenken zu tun, von dem Iris ter Schiphorst als Komponistin ausgeht: Ob Elemente und Musiziererfahrungen aus Rock oder Soul, ob Tonalität, Geräuschklänge, extreme Dissonanzen, Melodien, Cluster, Repetitionen – alles ist erlaubt, was sich vor dem kritischen Ohr der Komponistin als nützlich erweist. Und es hat natürlich mit ihrer Sensibilität und erstaunlichen Klangphantasie zu tun. Damit verändert sich die Qualität des Ausdrucks in Richtung eines emotionalen Realismus. Dieser findet fürs Sterben und für den Tod eine ebenso unverklärte, starke Sprache wie für die Leere der Weiterlebenden: Trostlosigkeit statt Trauer, Brutalität statt Drama, Sein statt Schein. Dieser Realismus aber mußte die alten Melodien und Harmonien durchlöchern, hat die Klänge zerbrechen lassen, schäbig und leer gemacht; die Töne selbst stöhnen, statt den Ausdruck des Stöhnens zu zelebrieren.
(Gisela Nauck)

Zurück