Programmhefttexte
Iris ter Schiphorst zu: ‘ Vergeben / Bruchstücke zu Edgar Varèse’ (2007)
für Bläser, Schlagzeug und Klavier
Im Programmheft des Festivals Musik der Zeit, Rahmenthema Double, Nov. 2007
Das Rahmenthema ‚Double’ und damit die Vorgabe, mich auf eine bereits existierende Komposition zu beziehen hat mich sofort gereizt. Eröffnete es doch die Möglichkeit, mich einmal auf andere Weise dem Kompositionsprozess zu nähern.
Besonders spannend fand ich, dass dabei ‚ganz nebenbei’ Fragen berührt wurden, mit denen ich mich vor vielen Jahren beschäftigt hatte, z. B. die nach der Beziehung zwischen Hörer und Musikwerk im ‚Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit’.
Damals hatte ich mit großer Leidenschaft Roland Barthes gelesen, bei dem es an einer Stelle heißt:
„Die traditionellen Gesellschaften kannten zwei Orte des Zuhörens, und zwar zwei entfremdete: das arrogante Zuhören des Ranghöheren und das servile Zuhören des Untergebenen. Eine freie Gesell-schaft ist unvorstellbar, wenn man im vornhinein akzeptiert, in ihr die alten Orte (und Schemen) des Zuhörens zu erhalten: die des Gläubigen, des Schülers und des Patienten.“
Es war die Zeit, in der ich die ‚Neue Musik’ für mich entdeckte – und ich erinnere mich, wie groß meine Enttäuschung war, wenn ich meinte, bestimmte Barthe’sche Zuschreibungen (‚arrogantes’ oder ‚serviles’ Zuhören’) selbst in diesem Kreis wahr zu nehmen.
Dabei war ich eigentlich schon immer der Ansicht gewesen, dass es weniger darum gehen könne, einem dem Werk von irgendeiner Autorität zugeschriebenen Sinn ‚hinterher’ zu hören, als vielmehr darum, den e i g e n e n Sinnen zu trauen und dem e i g e n e n Hören Raum zugeben.
Ich hatte schon immer von einem ‚dialogischen Hören’ geträumt, einem ‚aktiven’ prozesshaften Hören, das nicht im Verstehen ‚zum Stillstand’ kommt, bzw. ehrfurchtsvoll vor der Größe der Kunstwerke im Verstummen endet, sondern ‚weiter hört’, den Spuren nachgeht, die sie im Körper hinterlassen. Von einem Hören, das Schreiben macht.
Für ‚Vergeben…’ griff ich diese Gedanken wieder auf und versuchte, sie in meinen Kompositionsprozess einfließen zu lassen.
Da die Besetzung mehr oder weniger vorgegeben war (Bläser, Schlagzeug und Klavier) kam mir sehr schnell die Idee, mich auf Varèse zu beziehen, dessen zwei Stücke ‚Équatorial’ und ‚Désert’ mir wild und roh in Erinnerung waren und stellenweise eine starke physische Reaktion in mir hervorgerufen hatten. Genau dieser wollte ich nachgehen
Dazu habe ich mir Aufnahmen der Stücke besorgt und wieder und wieder angehört. Dann habe alles, was qua Besetzung nicht passte oder mir nichts ‚sagte’ einfach weg geschnitten. Aus dem übrig gebliebenen Gebilde habe ich wiederum jene Teile ausgewählt, die den stärksten Eindruck auf mich gemacht, die mich am meisten berührt haben.
Mit diesen kleinen Teilen fing ich an ‚zu spielen’; verschränkte sie miteinander, schichte sie über- und unter einander, verlangsamte oder beschleunigte sie, montierte sie falsch herum etc., mit anderen Worten: setzte sie ungeachtet inhaltlicher oder semantischer Bezüge entsprechend meines ‚Ohr-Sinns’, meiner ‚Hör-Lust’ neu zusammen, frei nach Roland Barthes: „Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich…“(1973) Einige dieser Bruchstücke mutierten während dieses Prozesses allmählich zu refrainartigen Gebilden, andere verlangten nach zusätzlichem Material - erst später habe ich bei Riemann gelesen, dass der Begriff Refrain übersetzt ‚Bruchstück’ heißt - , bis nach und nach m e i n Stück entstand, für das die beiden Stücke von Varèse zwar ‚Ausgangsimpuls’ waren (also Material, das urheberrechtlich längst ‚vergeben’ war), mit denen es im Resultat jedoch nicht mehr so besonders viel gemeinsam hat. Auch wenn dieser Andere sehr wohl an einigen Stellen durchscheint.