Iris ter Schiphorst: Berühren. In: Positionen 44, August 2000, S. 37-39

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Der Bereich ,Musik‘ scheint mir polarisierter denn je; auf der einen, überwiegenden Seite eine Musikkultur, die gänzlich ohne Schrift auskommt – zumindest ohne das traditionelle Aufschreibesystem (die sogenannte Pop-Musik);  auf der anderen Seite ein kleiner Zirkel von Individuen, der sich ganz der (neuen) Schrift-Musik, bzw. der Verschriftlichung von Musik widmet.
Wer sich dazwischen bewegt, wird oft sowohl von der einen, als auch der anderen Seite belächelt… oder gar als Verräter eingestuft …
Um es gleich vorweg zu nehmen: ich bin Expertin für das  „Dazwischen“… Ich befinde mich immer irgendwo dazwischen…,  zwischen den Medien, den Stilen, zwischen Schrift und Klang, Hören und Sehen, zwischen Wissenschaft und Kunst, Theorie und Praxis…. Es ist dieser Ort, das ‚Dazwischen‘, an dem ich mich besonders gut auskenne, der mich besonders interessiert…

Für ein ganz bestimmtes „Dazwischen“ gibt es in der neueren Literatur- und Kulturwissenschaft mittlerweile einen Begriff: „semi-literale Literatur“.
Damit ist eine Literatur gemeint, die  - und nur sehr rudimentär  - durch die Schrift geprägt und geformt ist. „Semi-literale Literatur“ ist ein „Zwischending“;  sie ist zwar geschrieben, verwendet jedoch formale und stilistische Kriterien, die eher Kennzeichen einer schriftlosen Kultur sind.
Dazu gehören zum Einen die vielfältigen Erscheinungsformen der Wiederholung
(d a s   Grundprinzip mündlicher Komposition) und zum Anderen  das gleichzeitige Verwenden von verschiedenen Codes (wie  melodische, rhythmische, choreographische und gestische), die die Botschaft ‚intensivieren‘. Diese Stilmittel, die Aleida und Jan Assmann  unter dem Begriff ‚orale Stilistik’ zusammenfassen, werden in oralen Kulturen eingesetzt, um die Zuhörer zu ‚fesseln’, um sie zu ‚berühren’. Sie sind notwendig, um den Inhalt, die Botschaft lebendiger, anschaulicher und intensiver zu gestalten. Denn nur eine Botschaft, die ‚berührt’, die ‚fesselt’, kann auch aufgenommen und im Gedächtnis behalten werden.

Ich möchte an dieser Stelle einfach behaupten, dass auch meine Musik immer mit Elementen so genannter ‚oraler Stilistik‘ arbeitet. Insofern hat sie mit dem Gestus und der Haltung eines Großteils der Neuen Musik wenig zu tun. Obwohl letztendlich jede Musik,  zumindest so lange sie eine Aufführung zum Ziel hat, auf eine Situation hinausläuft, die ihrer Form nach an die archaische Situation des „Mund zu Ohr“ Prinzips erinnert. Unabhängig davon, wie ‚neu‘ die Botschaft ist. In einer Aufführung spielt Schrift – zumindest für Zuhörer – keine Rolle.
Auch ich möchte ‚fesseln’, möchte ‚berühren’ und das, was ich zum Ausdruck bringen will, möglichst intensiv gestalten: sei es durch die Hinzunahme anderer Medien (in der 3-D Oper Anna’s Wake ist es ein 16mm Film, in der Kammeroper Silence moves ist es eine Video-Installation, bei meinem kammermusikalischen Zyklus Liebesgeschwüre sind es Dias und Leuchtkästen), sei es durch eine gute physische Performance der beteiligten Musiker, sei es durch guten Sound oder gutes Licht.

Die Bedeutung einer eigenständigen oralen Stilistik sowie ihr Einfluss auf die Schriftkultur wird erst ganz allmählich erkannt. Indirekt spielt dabei die unaufhaltsame Expansion der so genannten neuen Medien eine Rolle: sensibilisiert durch die in diesem Zusammenhang offenkundig gewordenen Grenzen von Schrift wird in den verschiedenen Disziplinen der Grenzbereich zwischen Schrift und Klang, Hören und Sehen neu diskutiert. Zur Disposition stehen dabei nicht nur Fragen nach dem Ende der Vorherrschaft der Schrift (zum Beispiel behaupten Kulturwissenschaftler wie Paul Virilio oder Vilém Flusser, dass an die Stelle von Buchstaben und Büchern längst die universelleren Codes wie Bild und Ton getreten sind), sondern auch Fragen nach vergleichbaren Medienwechseln in der Vergangenheit. In diesem Zusammenhang werden auch Debatten um die Bedeutung von körpergebundener und schriftgebundener Erinnerung samt ihrer Zuschreibungen wieder aufgenommen.
Und es ist vielleicht kein Wunder, dass dies zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem die Vernetzung zu einer globalen Informationsgesellschaft quasi abgeschlossen ist. An dem die Gesetze der Schrift ihren Sieg davongetragen haben.
Aleida und Jan Assmann vertreten dabei den Standpunkt, dass wirklich kulturverändernde Faktoren nicht in irgendwelchen medialen Errungenschaften (sei es nun Schrift oder neue  elektronischen Medien), die lediglich die Kapazität des Gedächtnisses in Frage stellen, zu suchen sind, sondern in Verhältnissen, die die Funktion des Gedächtnisses betreffen. Denn weder Schrift noch neue elektronische Medien können das Gedächtnis ganz ersetzen. Daher gilt für Aleida und Jan Assmann einzig das Gedächtnis als Fundament von Kultur und nicht Schrift oder andere Medien. Sie könne jedoch in unterschiedlichem Maße in unterschiedliche Funktionsbereiche einer Gedächtniskultur eindringen und neue, andersartige erschließen, was jeweils tiefgreifende und strukturell relevante Veränderungen nach sich zieht. Diese Verhältnisse aufzuspüren und solche Veränderungen zu rekonstruieren und zu beschreiben, sowohl für Prozesse in der Vergangenheit als auch für die Gegenwart, hat sich eben seit einiger Zeit vor allem die Kultur- und die Literaturwissenschaft zur Aufgabe gemacht. In diesen Kontext gehören die Begriffe ‚orale Stilistik’ und ‚semi-literale Literatur’.

Mein Interesse für diese Thematik hat unter anderem mit meiner Biographie und speziell mit meiner ‚Initiation’ in Musik zu tun. Meine Mutter war Pianistin und Musik daher fast so etwas wie eine weitere ‚Muttersprache’, zusätzlich zur holländischen und deutschen Sprache, mit denen ich groß geworden bin. Ich lernte sie ‚en passant’ , eben so, wie man  Sprachen lernt,  die man täglich hört, ganz selbstverständlich über das Gehör, durch Mimesis – auf dem Klavier. Was mir gefiel, und das war in meiner Kindheit und Jugend vor allem die Sprache der Wiener Klassiker und deutschen Romantiker, versuchte ich auf den Tasten ‚wieder zu finden’, manchmal relativ ‚notengetreu’, oft jedoch auch in veränderter Form, in anderen Tonarten, mit anders zusammengestellten Teilen. Ich habe mir ‚meine  Stücke’ sozusagen ‚zurechtgespielt’ und über das Ohr entschieden, was mir gefällt und was mir nicht gefällt. Im Alter von vierzehn Jahren konnte ich Beethoven-Sonaten nach Gehör spielen, lesen konnte ich sie nur sehr schlecht.
Das heißt, mein Zugang zu Musik fand zunächst fast ausschließlich über das Gehör und die Praxis statt, über eine ‚körpergebundene Überlieferung’ – wenn man so will. Schrift spielte dabei überhaupt keine Rolle. Diese schwarzen Punkte hatten für mich nur sehr wenig zu tun mit dem, was für mich Musik war: Klänge, Töne oder Tonabfolgen, die mich stark berührten, mich direkt ansprachen, direkt etwas in mir in Bewegung setzten, mich dazu brachten, selber Töne und Klänge zu finden oder ‚wieder zu finden’, die mich anregten zu tanzen. Dieser für mich prägende Zugang zur Musik hat dazugeführt, dass Schrift und Klang für mich zwei völlig verschiedene Orte sind, noch heute.

Als ich zu komponieren anfing, habe ich diese zwei Orte zunächst strikt auseinander gehalten. Das heißt, ich habe entweder an Stücken gearbeitet, die alle Parameter von Schrift, von graphischen Zeichen auszureizen suchten –ich nannte sie Augenmusiken, oder an Stücken, in denen Schrift überhaupt keine Rolle spielt, die nur mit dem Klang spielen – so genannte Hörlustmusiken.  In den Augenmusiken  ging es mir darum, mich ausschließlich von dem optischen Eindruck, der Graphie einer Komposition leiten zu lassen. Die Rückkopplung Klang war dabei für mich zunächst nebensächlich. Ich nahm zum Beispiel das Schriftbild einer bereits existierenden Komposition als Ausgangsmaterial und schreib es nach eigenen Regeln um bzw. unterwarf es meiner eigenen bildnerischen Gestaltung. Auf diese Wiese konnte aus einem kurzen Bachpräludium  eine mehrere Meter lange Graphik entstehen, deren Herkunft auf Grund beibehaltener optischer Komponenten  jedoch immer noch erkennbar war. Natürlich haben mich dabei auch jene Schriftexperimente inspiriert, die besonders in den sechziger Jahren für Furore sorgten: Verfahren, die auf Kreativität, Virtuosität und eine wundersame Kopplung von Klangvorstellung/Klangphantasie  und Visualität des Interpreten setzten.

Konsequenterweise sind dann die Hörlustmusiken  auch nicht in  Schrift, sondern mit Hilfe der so genannten neuen elektronischen Medien entstanden (Mit Tonbandgeräten, Samplern, Harddic-Recording- Systemen etc. ). Da diese Medien – im Gegensatz zur Schrift – den tatsächlichen Klang aufzuzeichnen in der Lage sind, das ‚Reale’ der Musik und nicht nur einen Code, der von irgendwelchen Musikern in Klang rückübersetzt werden muss, war es mir nun möglich, auf eine mir ganz vertraute Weise zu arbeiten: ich konnte mich ausschließlich leiten lassen von dem, was meinem Ohr gefiel. Ich habe zum Beispiel Klänge auf meinem Synthesizer fabriziert oder Samples produziert, ‚konkrete’ Klänge und Geräusche gesammelt, sie auf Mehrspurgeräten aufgenommen, verfremdet, zerschnitten, anders zusammengesetzt, rückwärts, parallel oder in  unterschiedlichen Geschwindigkeiten laufen lassen, mit Hilfe von Effektgeräten das Material bis zur Unkenntlichkeit verfremdet etc. Mit anderen Worten: ich habe versucht, alle Verfahren zu benutzen und auszureizen, die diese Maschinen vorgeben. Natürlich führt ein solches Komponieren zu völlig anderen Ergebnissen als das traditionelle ‚Schreiben’. Denn das Ohr entscheidet anders als das Auge. Alle traditionellen Kompositionsverfahren bis hin zu sämtlichen seriellen Techniken sind ‚literale’ Verfahren, da sie unwiderruflich and die Schrift und das Auge gekoppelt sind. Nur über das Ohr, über das Hören wären sie in keiner Weise zu bewerkstelligen. Im Gegensatz dazu sind die oben genannten ‚maschinellen’ Verfahren ganz  und gar ‚non-literal’. Und vielleicht könnte man sie, bei allen Vorbehalten, die eine solche Begrifflichkeit aufwirft, in gewisser Weise sogar als‚oral’ bezeichnen.
‚Semi-literal’ wären – so gesehen – Verfahren, die zum Beispiel diese eben beschriebenen Techniken mit den Möglichkeiten und Verfahren, die die traditionelle Schrift bietet, verschränkt. ‚’Semi-literal’ sind zum Beispiel all jene Arbeiten, die ich vor zirka zehn Jahren für mein Ensemble intrors geschrieben habe. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte ich auch mit ‚echten’ akustischen Instrumenten arbeiten. Daher bin ich dazu übergegangen, die mit Hilfe der elektronischen Verfahren entstandenen Klangergebnisse zu ‚transkribieren’ und Klänge, die sich dafür eigneten, bestimmten Instrumenten zuzuordnen. Auf diese Weise entstand eine ganze Anzahl elektro-akustischer Stücke für unterschiedliche Besetzung.
Als semi-literal können aber auch all jene Arbeiten bezeichnet werden, die zwar traditionell notiert und daher ‚literal’ sind, aber Merkmale und Strategien so genannter ‚oraler’ Stilistik’ verwenden. Ein Beispiel dafür stellt meine Ballade für Orchester dar, in der es eine Melodie gibt, die wie eine Art Lied  das ganze Stück durchzieht – wenn auch äußerst verfremdet und auf eine Weise instrumentiert, die deutlich macht, dass nicht mehr daran geglaubt wird. Oder es tauchen rhythmische Strukturen au, die sehr gestisch und körperlich gedacht sind. Die dort sehr bewusst gesetzten Wiederholungen orientieren sich ebenfalls an dem Stilmerkmal des Oralen.

Musik ist für mich ‚Sprache’, ob ich will, oder nicht. Es geht mir in ganz ursprünglichem Sinn darum, ‚etwas‘ auszudrücken, etwas mitzuteilen. Ausgangspunkt ist dabei immer mein Körper. Wenn mich etwas sehr bewegt, wenn mir etwas ‚nahe geht’, wird in mir eine Art ‚innerer Monolog‘ in Gang gesetzt, der auf ganz verschiedenen Ebenen, ja, man kann sagen, über ganz verschiedene Sinne den gesamten Körper erfasst: ein  Gemisch aus Worten, melodischen und rhythmischen Phrasen und  Bewegungsimpulsen, zum Teil komische rhythmische Gebilde, die meinen Körper zu zerteilen, ja, zu zerreißen scheinen.

Vielleicht hat auch dies mit meiner Biographie zu tun. So lange ich zurückdenken kann, habe ich Klavier gespielt und zwar leidenschaftlich gern. Mein intensivster Zugang zu Musik fand jedoch über Tanzen, über Bewegung statt. Schon  als sehr kleines Kind habe ich auf unserem uralten dunkelbraunen Radio mit Drehknöpfen immer Musiksendungen mit klassischer Musik herausgesucht und dazu getanzt. Stundenlang. Damals war mir klar: ich will Tänzerin werden. Die Bewegungen waren meine direkte Antwort auf das, was ich hörte. Ich habe diesen intensiven Berufswunsch – und das war er ab einem bestimmten Zeitpunkt – zielstrebig verfolgt und meine Eltern zu Ballett- und Tanzunterricht überredet, musste ihn jedoch wegen einer schweren Krankheit im Alter von zwölf Jahren aufgeben. In den darauf folgenden Jahren, in denen ich mich krankheitsbedingt kaum bewegen durfte, fühlte ich mich wie von meiner Sprache abgeschnitten. Die Musik und das Klavierspielen waren das, was übrig blieb, aber es war nur noch eine Hälfte. Die Sehnsucht, dieses Paar Musik und Bewegung zu verbinden, ist seitdem geblieben und es ist eigentlich genau das, was mich seit geraumer Zeit zum Schreiben bringt. Dafür habe ich sogar von einigen Jahren wieder den alten Kampf mit der traditionellen Notenschrift aufgenommen. Zumindest rudimentär bekomme ich manchmal Töne und bestimmte rhythmische Gebilde au diese Weise zu fassen, obwohl es sehr schwer und sehr mühselig ist und immer nur eine vage Annäherung bleibt. Eine Weile habe ich versucht, herauszufinden, ob es eine Art ‚Bewegungsalphabet’ in mir gibt, ob bestimmte Bewegungen und Gesten unwiderrufliche verschränkt oder gekoppelt sind and  bestimmte Klänge, Töne oder Abfolgen von Tönen. Ich weiß es nicht. Aber genau dies ist es, was mich am Komponieren am meisten interessiert. Dieses Paar. Musik und Bewegung. Und das namenlose ‚Dazwischen’…

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