Vortragsmanuskript (Auszug)  gehalten im Januar 2011 in der Philharmonie Berlin
Musik als Funktionssystem?


Musik / Moderne
In der Philosophie geht man davon aus, dass ab dem  16. Jahrhundert in Europa ein Modernisierungsprozess einsetzte, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Dabei wird die Zeit um ca. 1800 ganz allgemein als der Übergang von vormodernen zu modernen Gesellschaften definiert. Vormoderne Gesellschaften waren nach Ständen gegliedert. Das heißt, der Stand, in den man hinein geboren wurde, entschied darüber, inwiefern man an der Gesellschaft teilnehmen konnte (welche Macht man im gesellschaftlichen Leben hatte). Ob man Recht bekam oder nicht, ob man ein politisches Mitbestimmungsrecht hatte oder nicht, ob man heiraten oder lieben durfte, wen oder wann man wollte oder nicht, usw. Diese verschiedenen Bereiche des Rechts, der Politik, der Religion, der Liebe, aber auch der Kunst und der Musik verändern  um 1800 ihre Logiken. Sie sind nicht länger an die Hierarchie der Stände gebunden, werden sozusagen aus ihren bisherigen Funktionen entlassen und  zu  autonomen Funktionssystemen mit einem je eigenen Code, an denen jeder Einzelne unabhängig von seinem Stand partizipieren kann.
Auch die Musik wird zu einem ‚autonomen Funktionssystem‘ (im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie) und ist nicht länger eingebettet in die christlich-mittelalterlichen Aufgaben der klerikalen Ständegesellschaft: Insofern haben wir es um diese Zeit – also um 1800 mit einem gravierenden Einschnitt zu tun! Auch für die Musik!
Und die folgende kurze Auflistung verdeutlicht vielleicht, wie gravierend dieser Einschnitt tatsächlich ist! Und wie sehr er noch heute nach wirkt. Ab diesem Moment gehört Musik offiziell nicht mehr in das Quadrivium der 7 freien Künste. Wir haben es ab dieser Zeit erstmalig mit ‚freien‘ Musikern und Komponisten zu tun und einer ganz neuen vom freien Markt bestimmten musikalischen Öffentlichkeit…- aber auch mit einer ‚freien‘, aus sämtlichen bisherigen Funktionen entlassenen Musik! Dadurch kommt ihre Eigenbedeutung in’s Spiel, ihr Eigenwert; nicht zufällig werden als Folge dieses Umbruchs mehr und mehr reine Instrumentalstücke komponiert, die später unter dem Begriff ‚absolute Musik’ in die Musikgeschichte  eingehen. Und genau um diese Zeit wird es zur Hauptaufgabe der Autoren einer neuen Geisteswissenschaft namens Musikwissenschaft zu beweisen, dass Musik eine eigenständige Sprache sei (und nicht mehr nur einer Sprache ähnlich, wie noch die Affektenlehre des Barock behauptete und dafür kanonisierte Stilmittel aufstellte).
Was die Aufgabe, die Funktion der Musik unter diesen veränderten, diesen ‚freien’ Bedingungen sein könnte, darüber wurde um 1800 heftig debattiert. Dazu muss man wissen, dass an deutschen Universitäten das, was wir als Musik oder auch als ‚Musikwissenschaften’ zu bezeichnen gewohnt sind, im 18. Jahrhundert überhaupt nicht vertreten war, zumindest nicht als eigenständiges Lehrfach. Empirismus und Rationalisumus hatten sie seit dem 17. Jahrhundert überall vollständig von den Universitäten verdrängt. Z. B. waren an der Pariser Academie Royale  und der Londoner Royal Society musikalische Phänomene zum Gegenstand einer neuen experimentellen Disziplin namens ‚Acoustic’ geworden, d. h. man forschte über die Gesetzmäßigkeiten des Schalls. Diesen Bemühungen verdanken sich übrigens die ersten verbindlichen Instrumente zur Normierung der entscheidenden Parameter Tonhöhe und Zeitdauer: der Sonomètre und der Chronomètre. Im deutschsprachigen Raum hatten bis dahin lediglich die sogennanten Collegia musica existiert, studentische Vereinigungen, die sich regelmäßig zum praktischen Musizieren trafen und aus denen später im Zuge des oben genannten Umbruchs die Institution des öffentlichen Konzertes hervorgehen sollte. Diesen Vereinigungen, diesen Collegia musica standen zwar ab ca Mitte des 18. Jahrhunderts an renommierten Anstalten wie Göttingen, Halle, Leipzig oder Würzburg Universitätsmusikdirektoren vor, doch ließ sich mit diesen privaten, zumeist kostenlosen Studien kein akademischer Titel erlangen. Das sollte sich – so waren sich die damaligen Gelehrten einig, um 1800 ändern. Die Musik sollte eine eigene, neue Wissenschaft bekommen, die ihre Veränderung, ihre neue Praxis reflektieren, regulieren und begründen helfen sollte. Im Jahre 1779 wird daher an den Universitäten Halle und Göttingen die Musik in den Stand einer akademischen Disziplin erhoben. In Halle durch den Organisten, Musiktheoretiker und Komponist Daniel Gottlieb Türck und in Göttingen durch den Organisten und Musikforscher  Johann Nikolaus Forkel. Das schien insofern sinnvoll und überfällig, als  um ca 1800 die Musik, mit ihrer neuen musikalischen Öffentlichkeit, mit all ihren Formen der bürgerlichen Selbst-Organisation, mit ihren Schul- und Liebhaberkonzerten, mit ihrer Hausmusik und dem privaten Clavier-Musikunterricht, mit ihren Musikgesellschaften und Musikervereinigungen, mit ihren Publikationsorganen und Periodika, mit ihrer Ökonomie des ‚freien Marktes’ des Druck – und Verlagswesens und des Instrumentenbaugewerbes zur absoluten bürgerlichen Lieblingskunst avanciert war.  Daher war mit der Einführung der neuen Disziplin Musikwissenschaft an den Universitäten Halle und Göttingen auch die Hoffnung auf ein (staatliches) Regulativ in Sachen Musik verbunden, ein Regulativ,  das dieser Dynamik Richtung und Form würde geben können. An den Vorlesungen und Publikationen Forkels und Türcks lassen sich die unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Fakultäten Göttingen und Halle in Bezug auf die Rolle der Musik ablesen, die ihr um 1800 zugeschrieben wurde. Bei Türck in Halle steht die Pädagogik im Vordergrund. Das heißt, Türck macht ganz besonders den Klavierunterricht zu seinem Anliegen, jenes Instrument, das zum absoluten Lieblingsinstrument des neuen Bildungsbürgertums avanciert war. Er läßt stumme Holzklaviaturen bauen, die im Gruppenunterricht das ‚motorische Bewegungsgedächtnis’ fördern sollten, er schreibt Klavierschulen, fördert Klaviergruppenunterricht (zum Teil auf bemalten Holzleisten), und gibt eine Flut von leicht spielbaren Klaviernoten heraus;  Geläufigkeitsschulen, kurze Stücken, Klavierauszüge etc. etc. Noch bis Ende des 18. Jahrhunderts war der  Gesangsunterricht das entscheidende Medium zur musikalischen Bildung gewesen, ab 1800 wird es das Klavier. Vielleicht ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass das Klavier zum entscheidenden Medium dieser Zeit wird, das auf allen Ebenen die Praxis und das Denken über Musik, aber auch das Komponieren selbst entscheidend modifiziert. Ich glaube, man macht sich heute keine Vorstellungen mehr über seine damalige Verbreitung und die damit einhergehende Musizierpraxis. Das Medium Klavier wird entscheidend dazu beitragen, im und für das Funktionssystem Musik neue Begrifflichkeiten zu finden. Nur hier am Rande: Die Musiktheoretiker und Organisten des Barock hatten sich noch ganz entschieden gegen das Verfertigen von Kompositionen vor der Klaviatur gewandt und gegen eine Praxis polemisiert, die das Fingergefühlt und den Gehörseindruck höher schätzt, als die vernünftig-abstrakte Beachtung der Kunstregeln. Doch im ausgehenden 17. Jahrhundert erhalten die Klavierinstrumente auch beim Komponieren einen zentralen Platz. Durch, mit und auf diesen Tasteninstrumenten entwickelt sich allmählich das ‚akkordische Denken’, das sich mehr für die Zusammenklänge, die Modulationen und Akkordfortschreitungen interessiert, als für ‚Stimmen’ und ‚Intervalle’ gemäß den Regeln des kontrapunktischen Satzes.  Mitentscheidend für diese Entwicklung ist sicherlich auch die Durchsetzung der neuen ‚wohl-temperierten Stimmung’, die im Grunde alle Tonarten ‚gleichschaltet’ und dadurch bestimmte Modulation und Kompositionen überhaupt erst ermöglicht. Erst dadurch wird das Klavier tatsächlich zu einer Art ‚Kompositionsmaschine’, auf der Musik, d.h. die Anordnung von Tönen, Tonleitern, Akkorden etc., sowohl manuell begreifbar also auch visuell vorstellbar wird. Matheson schreibt  im Vollkommenen Capellmeister  schon im Jahre 1739 das Klavier „ könne einen weit deutlicheren Begriff vom harmonischen Bau geben, als die übrigen (Instrumente), wann auch der Kasten oder die Maschine gar nicht vorhanden ist, sondern nur in Gedanken vorstellig gemacht wird: denn die Lage, Ordnung und Reihe der Klänge ist nirgends so deutlich und sichtbar, als in den Tasten eines Klaviers.“ (1729/1754 S. 106)  Anders als seinem Kollegen Türck in Halle geht es Forkel in Göttingen weniger um ‚praktische Menschenbildung’ oder Klavierpädagogik. In Göttingen werden Geisteswissenschaften betrieben: dort geht es um den Beweis, dass Musik eine Sprache sei. (Dass letztendlich der Ansatz Türcks und das Klavier-Spielen dabei ‚unbewußt’ in Forkels ‚logische Sprache der Musik’ einfließen wird, kann hier nur am Rande erwähnt werden.) Forkel geht es um einen ‚universalhistorischen Entwurf’ der Musikwissenschaft. Das heißt, in Göttingen soll das begriffliche Rüstzeug für eine Wissenschaft erfunden werden, die das ‚Wesen’ der Musik zur Sprache bringen, ihren ‚Sinn’ in Begriffe bringen, ihn ‚übersetzen’ soll. Musik soll nicht einfach nur ausgeführt und gespielt werden, sondern auch und vor allem ‚verstanden’ und reflektiert werden. Man kann auch sagen, in Göttingen wird es darum gehen, Begriffe zu finden für das, was sich längst in den ausübenden Bürgerkörpern via Tastatur eingeschrieben hat. Für das Gefühl, dass Musik einen ‚eigenen’ Sinn hat, dass Musik ‚spricht’. Bei der Suchen nach einem sprachlichen Begreifen, bei der Suche nach sprachlichen Begriffen für musikalisch-praktische Sachverhalte, bei der Suche nach einer Theorie für die Praxis wird Forkel unglaublich produktiv sein. Er wird es schaffen, nicht nur die unterschiedlichen Positionen der  Musikgelehrten und Kontrahenten Rameau und Rousseau in einer ‚Sprache der Musik’ zu vereinen, sondern auch den in der Literatur und Sprachwissenschaft entstehenden ‚Ur- Lautgedanken’ von Herder auf die Musik zu übertragen. Wir erinnern uns, für den gewandten Tastenspieler Rameau galt die die Harmonie als Ursprung von Musik, für den schlechten Notenzifferer und Blattspieler  Roussau hingegen die Melodie; sozusagen als Stimme der Seele. Und Herder wiederum hatte zu beweisen versucht, dass jegliche Sprache, jegliches Sprechen sich aus einem ‚Urlaut’, eine Ur-Empfindungslaut’ herleiten lasse. Vor diesem Hintergrund nun wird Forkel – den Gedanken Herders aber auch Rousseaus folgend in seinem Versuch einer Metaphysik der Tonkunst  darstellen, dass Musik „eine Sprache der Empfindung sei, … nichts als tonleidenschaftlicher Ausdruck eines Gefühls  - und jeder Ton folglich ‚Empfindungslaut’; -  sich  aber gleichzeitig auf Rameau beziehend darlegen, dass die Harmonie, die funktionale Harmonik als ‚die Grammatik’ der Sprache Musik ‚richtiges  Denken’ und somit die ‚Logik der Musik’ sei. Und erst diese musikalische Logik (sprich die funktionale Harmonik) macht aus den Urlauten Sinn und aus der Musik eine vollständige Sprache. Das heißt, Musik wurde bei  Forkel zur ‚Empfindungssprache’, zum subjektiven Ausdruck eines Selbst, deren kleinster Nenner – und Ursprung zugleich der Urlaut sei. Diesen Urlaut als Grundton zu überführen , ist einer der Coups dieser Konstruktion. Ein weiterer ist, die funktionale Harmonik als musikalische Logik, als die ‚Grammatik’ der Sprache Musik zu deklarieren. Denn erst eine musikalische Logik (sprich Harmonik) macht aus den Urlauten Sinn und aus Musik eine vollständige Sprache.
Doch noch etwas anderes hatte Forkel im Sinn; er möchte die Gewordenheit der Musik rekonstruieren, er möchte ihre Geschichte aufzeichnen, und zwar als eine fortschreitende, sich immer weiter entwickelnde, von Werk zu Werk aufbauende. Insgesamt 10 Bände waren von dieser Universalgeschichte der Musik geplant, wobei ihre Reihenfolge 1-10 nicht nur einer zeitlich-linearen Abfolge entsprechen sollte, sondern auch einer Bewertungsskala. Den 10. und letzten Band wollte Forkel der deutschen Musik widmen – als Krönung und Endpunkt der Geschichte der Musik schlechthin.
Lassen Sie mich an dieser Stelle meine Darstellung abbrechen. Vielleicht ist es einigermaßen anschaulich geworden, wie stark der Umbruch um 1800 war, wie große die Bedeutung für den Bereich Musik, aber auch, wie sehr er von den führenden Intellektuellen reflektiert wurde, was in diversen Schriften und Theorien Eingang gefunden hat, Schriften, die zum Teil noch heute Gültigkeit haben. Beeindruckend ist aber auch, wie wichtig in diesem Umbruch tatsächlich die Musik selbst war, welche große Rolle sie gespielt hat, wie sehr sie im bürgerlichen Leben, aber auch in der Wissenschaft und Pädagogik verankert war. Und nicht zuletzt, wie sehr Musiker, Musikgelehrte und führende Köpfe versucht haben, den medialen Wandel hin zur Musik als bürgerliche Lieblingskunst zu reflektieren und begreifen und ihr eine neue Funktion und Bedeutung, einen ‚Eigenwert’  zu zuschreiben. Was in dieser Phase versäumt wurde, ist eine Alphabetisierung in Sachen Musik festzuschreiben. Die Notenschrift blieb daher immer nur Expertenwissen – bis in die heutige Zeit hinein. Dieser Prozeß wurde sicherlich auch vorangetrieben durch das Begehren des ‚aufgeklärten’ vom Adel  sich mehr und mehr abgrenzenden Bürgers nach einer ‚eigenen Kunst’, nach einer eigenen ‚Stimme’,  nach einer eigenen kulturellen Identität. Nach einem ‚Eigenwert’. Und dieses Begehren nach einem Eigenwert war sicherlich auch verbunden mit dem Begehren nach einem ‚nationalen’ Wert; genauer: nach einer ‚deutschen’ Identität – und nach einer‚eigenen’ deutschen Sprache und Musik. (Forkels Projekt, eine Universalgeschichte zu schreiben, wird genau auf dieses Eigene hinauslaufen: Auf die Deutsche Musik als Krönung der Musikgeschichte. ) (Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass es um diese Zeit noch keinen ‚eigenen’ deutschen Nationalstaat gab – im Unterschied zu Frankreich, Italien, Niederlande etc. Deutschland war aufgeteilt in verschiedene Protektorate und Fürstenprovinzen, ein Umstand, der von vielen Intellektuellen (z. B: auch von Schiller) beklagt wird. Dazu kam, dass die deutsche Kultur im 18. Jahrhundert in Europa kaum etwas wert war. (Gelehrte Texte waren in Lateinischer Schrift geschrieben, als übliche Konversationssprache des gebildeten Adels galt das Französische. Der deutschen Sprache hing das Stigma einer ‚Bergwerkersprache’ an.) Insofern geriet die deutsche Musik auch zum Identitätsstifter der neuen bürgerlichen Schicht. Interessant ist aber noch etwas anderes: Ähnlich bedeutende mediale Wechsel in späterer Zeit, z. B. das Aufkommen der Massenmedien in den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts oder auch die Digitalisierung und Globalisierung ab der 80iger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden erstaunlicher Weise in dem sich immer weiter ausdifferenzierenden Funktionssystem Musik nicht mehr wirklich reflektiert. Als sei seine Art und Geschichtlichkeit um 1800 und im Fortgang nicht nur begründet, sondern auch ‚festgeschrieben’ worden. Als könne sich das autonome Funktionssystem Musik, einmal etabliert und ausdifferenziert nicht mehr auf ‚Neues’ von Außen einlassen.  Als würde die Geschichtlichkeit des System, ihre innersystemische Evolution, ihre permanente innersystemische Generierung des Neuen aus ehemals Neuen – als würde diese, ja ‚Logik’ dieses Funktionssystems keinen Raum lassen für Reflektionen, die nicht ganz direkt in ihr System passen.
(Ich möchte an dieser Stelle auf das Buch ‘Klavier Spiele’ von Wolfgang Scherer hinweisen, dem ich viele Anregungen zu verdanken habe).

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