Waltz, Yoreme: Tanzstück über ungelebtes Leben

Waltz, Yoreme: Über die Zusammenarbeit von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring, 1998

Zur Zusammenarbeit von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring

Was in dem Überlassen einiger Melodien und Texte von Iris ter Schiphorst für Helmut Oehrings Musiktheaterprojekte „Das D’Amato System“ und „Dokumentation I“ 1995 seinen Anfang nahm, entwickelte sich seit 1996 zu einer der aktuell erfolgreichsten Zusammenarbeit zweier Komponisten. Im gemeinsamen Schaffen fanden beide eine neue Motivation - Iris ter Schiphorst z. B. in der neuerlichen Auseinandersetzung mit traditioneller Notation. Ertrag und Kristallisationsmomente der Künstlerbeziehung waren das 1996 in Donaueschingen uraufgeführte Melodram „Polaroids“, der 1997 in Witten uraufgeführte Gedichtzyklus „Live“ (nach Anne Sexton) und das im selben Jahr in Berlin vorgestellte „Prae-Senz (Ballet blanc II)“. Es folgten das im November 1997 in Rom präsentierte „Silence Moves II“ (für Stimme, Instrumente, Live-Elektronik und Zuspiele) und in jüngster Vergangenheit „A.N.“ (für 2 Stimmen und Instrumentalensemble; UA April 1998 in Brüssel) sowie „Im Vormonat …“ (für Instrumentalensembe; UA Mai 1998 Saarbrücken).

Außergewöhnlich, vielleicht einzigartig, ist die Zusammenarbeit nicht nur durch die Arbeitsweise, die beiden Künstlern die Orientierung an eigenen Vorgaben läßt, gleichzeitig aber den Dialog fordert. Präsent, jedoch nicht ständig hinterfragt, steht dahinter eine Werkauffassung ent-invidualisierenden Charakters, die beim Publikum zu Irritationen führen kann: Unmittelbar zusammenhängend mit der konventionellen Auffassung von Werk und Autorenschaft - daran konnten im zu Ende gehenden Jahrhundert auch unterschiedlichste musikalische Konzeptionen vom Jazz bis hin zu Cage kaum etwas ändern - gilt der Komponist und sein Werk immer noch als etwas unteilbares. Eine Vorstellung, der weder Iris ter Schiphorst noch Helmut Oehring anhängen, sondern die sie im Gegenteil vehement in Frage stellen und ihrer Position gewissermaßen „performativ“ durch den tätigen Gegenbeweis Nachdruck verleihen.

Parallelen in den beiden Biographien, vor allem eine ähnliche Ausbildungssituation deuten den Hintergrund ihres Verständnisses füreinander an: Beide sind mehr oder weniger als Autodidakten zur Komposition gekommen und wurden stark von den Werken aus der - im weitesten Sinne - „Unterhaltungsmusik“ beeinflußt, in der das gemeinsame Komponieren die Norm und nicht die Ausnahme ist.
Gemeinsam ist ihnen auch ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Sprache, sowohl als Instrument, als Kommunikations- und Ausdrucksmittel wie auch als Symbol von Macht und Herrschaft und als Stifterin von Identitäten.
Helmut Oehring, der als Sohn taubstummer Eltern überhaupt erst mit vier Jahren sprechen lernte, hat in die Musik ein fundamentales Mißtrauen gegenüber dem Laut an sich hineingebracht. In seiner „Dokumentaroper“ ist das Zersetzen des Klingenden zugunsten eines rauhen brüchigen Tones, vermischt mit den unartikulierten Lauten der Sprache der Gehörlosen, zu erleben.
Für ihr erstes gemeinsames Stück „Polaroids“ (1996) wählten sie denn auch mit einer gehörlosen Darstellerin und einem Sopranisten eine durchaus programmatische Besetzung. Das Melodram umkreist ein Hauptthema beider Komponisten: „In Wirklichkeit ist Gebärdensprache, trotz ihrer Laut-losigkeit, dem System der Musik wesentlich ähnlicher als der gesprochenen phonetischen Sprache.“

Obwohl auch für Iris ter Schiphorst der Rückbezug auf einen nicht klingenden gebärdenhaften Bereich eine große Attraktivität besitzt, scheidet sich darin auch wesentlich die Auffassung beider: Denn für Iris ter Schiphorst ist der Klang - als Gegensatz zur Schrift - das eigentlich Lebendige.
So wird auch verständlich, daß Iris ter Schiphorst gerne und häufig für Stimme schreibt, während für Helmut Oehring bis 1995 Instrumentalmusik im Vordergrund stand. Fast immer verfremdete er den „normalen“ Klang, Saiten wurden verstimmt, die Felle der Schlagzeuge entspannt, Stimmung verzeichnet, „[…] bis nichts mehr ‘natürlich’ klingt […]“ Oder wie Giesela Nauck kommentierte: Der Klang seiner Musik „[…] ist schmerzhaft schrill, erbärmlich, scheppernd, röchelnd, dumpf, nur die Gesangsstimme kann manchmal - und das auch erst in Werken der letzten Zeit - einen reinen, melancholischen Ton annehmen.“
Doch die differenzierende Auffassung im Bereich Sprache und Klang hemmt ihre Zusammenarbeit nicht, sondern unterstützt sie fruchtbar. Denn trotz oder gerade aufgrund des beständigen Mißtrauens gegenüber Sprache als Zeichen und in ihrer Wirkung oder gegenüber Bedeutungen die durch Sprache geschaffen und zementiert werden, haben Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring keine Verständigungsprobleme. Wenn sie sich auf die Thematik, die Besetzung und den Gestus einer Komposition geeinigt haben, beginnt jeder zunächst allein zu schreiben. Nach einiger Zeit fügen sie ihre Entwürfe zusammen und präzisieren sie, indem sie Teile herausnehmen oder ergänzen: im Grunde genommen also eine völlig unprätentiöse Verfahrensweise, deren Erfolgsgeheimnis nur im tieferen, von hoher Individualität geprägten Dialog zweier Komponistenpersönlichkeiten gesucht werden kann.

So bedeutet gemeinsam komponieren letztlich nur, sich auf die Stimme eines „anderen“ zu verlassen, einzulassen …..
Yoreme Waltz (1998)

1 Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring, Erläuterungen in: Werkausgabe „Polaroids“, Bote & Bock, Berlin 1996.
2 Iris ter Schiphorst: CD-Booklet zu Helmut Oehring „Dokumentaroper“, Wergo, Mainz 1997, S. 16.

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