Iris ter Schiphorst: Dimensionen des Handwerks heute. In: Positionen 51, November 2002

Gisela Nauck, Andreas Dohmen, Juliane Klein, Michael Hirsch, Iris ter Schiphorst, Carolin Naujocks im Gespräch

Auszug:

I.t.S.: Seit ich komponiere, beschäftigt mich mehr als alles andere das Verhältnis von Schrift und Klang. Nun konnte ja bis vor noch nicht allzu langer Zeit Musik nur im Medium Schrift gespeichert werden, so dass sämtliche Kompositionsvefahren immer Arbeit am Code, an der Schrift waren. Ich brauche wohl nicht auszuführen, dass ich als Komponistin dieser Tradition sehr zwiespältig gegenüberstehe. Daher ist es wahrscheinlich auch nicht verwunderlich, dass ich mich schon seit Langem ganz besonders für andere Aufzeichnungsverfahren von Musik interessiere. Für all jene Speichermeiden, die es erlauben, direkt am Klang, direkt am Sound zu arbeiten und nicht nur am Code. Das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten dieser Medien beeinflusst mich sehr in meinem Denken über und in meiner Idee von Musik. Und es beeinflusst mein Komponieren – und damit meine Vorgehensweise, meine Handwerk. Zu diesem Handwerk gehört zum Beispiel ganz konkret, dass ich nicht nur weiß, wie ein Tongand oder Sampler funktioniert, sondern auch und vor allem, wie ich mit einem Tonband oder einem Sampler den realen Klang verändern und bearbeiten kann: angefangen vom Schneiden über verschiedene Abspielgeschwindigkeiten, Abspielrichtungen bis hin zum Anfertigen von Loops etc. Die Vielzahl dieser Bearbeitungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen klanglichen Ergebnissen hat meine Klangvorstellung entscheidend mitgeprägt. Und damit auch mein Komponieren am Tisch, mein Schreiben.
(…)
Ob Fuge, Spiegelform, Krebs, Zwölfton – oder serielle Techniken – all diese Verfahren sind definitiv an die Schrift und das Auge gekoppelt, sind ‚literarische Techniken’ , wenn man so will. Doch mittlerweile befinden wir uns in einer Situation, in der Schrift nicht mehr das einzige Speichermedium ist und das lesende Auge somit nicht mehr die alleinige Vorherrschaft über Musik hat. … Z. B. verdankt sich die so genannte ‚Minimalmusik’, zumindest in ihren Anfängen, definitiv dem Tonband, genauer: einem technischen Verfahren, das in diesem Fall darin bestand, verschiedene Tonbandgeräte mit gleichem Material gleichzeitig in verschiedenen Bandlaufgeschwindigkeiten abzuspielen. Aber dieses Verfahren hat nichts mehr mit Schrift und dem kontrollierenden Auge zu tun.
(…)
Wir sind ja heutzutage in der Musik nicht nur mit unendlich vielen stilistischen und handwerklichen Möglichkeiten konfrontiert, sondern auch mit dem ganzen philosophischen Gedankengut des 20. Jahrhunderts – ob wir wollen oder nicht. Und auch dazu müssen wir uns in irgendeiner Weise verhalten. Das heißt, die Sinnfrage schiebt sich über die kompositorische Arbeit, schiebt sind in diesen ‚Handwerkspool’ mit hinein. Wir haben also beim Komponieren nicht nur Entscheidungen über so und so viele handwerkliche Möglichkeiten zu treffen, sondern müssen uns auch mit der Auflösung des Subjektbegriffes, der Werkkategorie etc. herumschlagen. Und ich glaube, diese Situation ist neu und hat es so im 17. Oder 18. Jahrhundert nicht gegeben.
(…)
Wo ist heutzutage überhaupt noch so viel Konsens vorhanden, dass ein Regelverstoß als Idee zu einem Werk überhaupt noch als solcher wahrgenommen wird? Wo gibt es noch verbindliche Regeln, dass solche Auffassung von Komposition und Kunst überhaupt noch Sinn macht?

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